Rede von Jens Spahn in 175. Sitzung
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Februar hat der Finanzminister die wirtschaftliche Lage Deutschlands als „peinlich“ bezeichnet. Der Wirtschaftsminister hat von einer „dramatischen Lage“ gesprochen. Vier Monate später stellen wir fest: Deutschland ist weiter in der Stagnation. Kein Wachstum, nirgends! Wir sind Schlusslicht der Industrieländer. Investitionen fließen aus Deutschland ab wie nie zuvor. Wer kann, investiert im Ausland. Kurzum: Die beiden Minister hatten also recht. Die Lage ist peinlich. Die Lage ist dramatisch. Aber es passiert nichts, gar nichts. Diese Regierung tut nichts!
Beifall bei der CDU/CSU
Zuruf von der FDP: So ein Quatsch!)
Seit vier Monaten warten wir darauf, dass was passiert. Nichts passiert! Der Kanzler redet sich die Lage schön. Bei dem hat man eh den Eindruck, der lebt in einer anderen Welt. Man muss sich das mal bewusst machen: Der Wirtschafts- und der Finanzminister der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt streiten seit Monaten vor aller Augen täglich. Ihr Streit ist mittlerweile zum größten Standortrisiko für Deutschland geworden. Die Ampel ist zum größten Standortrisiko für Deutschland geworden, weil es für die Unternehmen keine Sicherheit gibt, wo es langgeht.
Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der AfD)
Nun erleben wir die neueste Staffel in Ihrer Streitserie. Am letzten Freitag, Herr Strengmann-Kuhn, kündigt der Wirtschaftsminister – wenn mich nicht alles täuscht, noch Mitglied Ihrer Fraktion – von den Grünen an, das deutsche Lieferkettengesetz aussetzen zu wollen, und zwar nicht irgendwann, sondern er hat gesagt: Jetzt sollte man es aussetzen. Der Finanzminister von der FDP sieht das eh schon länger so. Der Justizminister hat das Ganze begrüßt.
Beifall bei der CDU/CSU)
Herr Spahn, möchten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Strengmann-Kuhn zulassen?
Sehr gerne.
Bitte sehr.
Frau Präsidentin! Vielen Dank, Herr Spahn, dass Sie die Frage zulassen. – Auch durch Wiederholung wird eine verkürzte Berichterstattung in der „FAZ“ nicht zur Wirklichkeit.
Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Der Wirtschaftsminister ist nicht dafür, das gesamte Gesetz auszusetzen, und er ist schon gar nicht dafür, das Gesetz abzuschaffen, wie Sie es jetzt beantragen. Es geht nicht darum, das Gesetz auszusetzen, sondern es geht darum, über eine Pausierung der Berichtspflichten nachzudenken und darüber zu reden,
Das ist der Kern des Gesetzes!)
wie wir die Berichtspflicht so gestalten können, dass die Unternehmen, die schon berichtspflichtig sind, nach der neuen Lieferkettenrichtlinie einen ähnlichen Bericht abgeben können. Es geht sogar darum, die Lieferkettenrichtlinie möglichst schnell umzusetzen – das hat der Wirtschaftsminister kurz danach in einer Agenturmeldung richtiggestellt –, weil das europäische Lieferkettengesetz auch nach Meinung des Wirtschaftsministers noch besser ist als deutsche Lieferkettengesetz. Deswegen wollen wir das möglichst schnell umsetzen.
Das ist doch eine Parallelrede!)
Es geht also darum, die Berichtspflichten so zu gestalten, dass sie möglichst unbürokratisch umsetzbar sind. Er hat nicht gesagt, dass das Gesetz ausgesetzt werden soll, und schon gar nicht, dass es abgeschafft werden muss. – So viel zur Klarstellung.
Einmal kurz zur Klarstellung, Herr Spahn. Es sind sowohl Fragen als auch Zwischenbemerkungen erlaubt, Reden natürlich nicht. Das hätte ich auch gestoppt, wenn es über drei Minuten gewesen wäre. – Herr Spahn.
Frau Präsidentin! Herr Kollege, wir bereiten uns ja vor auf diese Debatte, und deswegen haben wir uns noch mal sehr genau angeschaut, was der Wirtschaftsminister – übrigens nicht zum ersten Mal; er hat es auch vorher schon häufiger gesagt, wenn auch nicht immer öffentlich – am letzten Freitag öffentlich gesagt hat. Er hat gesagt, er möchte, dass es jetzt pausiert. Die Berichtspflichten sind übrigens der Kern des Gesetzes; darum geht es in diesem ganzen Lieferkettengesetz. Übrigens hat er recht: Es ist doch Unsinn, von den deutschen Unternehmen zu erwarten, dass sie sich auf das Inkrafttreten der europäischen Lieferkettenrichtlinie vorbereiten sollen, und parallel dazu die noch bürokratischere deutsche Lieferkettenregelung in Kraft zu setzen. Das ist doch einfach Unsinn!
Beifall bei der CDU/CSU)
Er hat also recht.
Die Frage, Herr Strengmann-Kuhn, ist mittlerweile eine andere. Sie sind auf dem Weg, Herrn Habeck zum Spitzenkandidaten der Grünen zu machen. Wir erleben das Muster regelmäßig.
Und welchen Spitzenkandidaten hat die Union?)
Beim CCS-Gesetz geht Herr Habeck voran, schlägt eine Regelung vor, von der man durchaus sagen könnte: Sie ist vernünftig und pragmatisch. – Die erste Kritik kommt aus den eigenen Reihen. Frau Badum und andere sagen: So ein Gesetz wollen wir nicht haben.
Beifall bei der CDU/CSU)
Herr Habeck sagt am Freitag wieder etwas Vernünftiges – „Endlich!“, möchte man rufen –, und die Ersten, die ihn kritisieren, sind Sie. Sie haben hier eine Rede gehalten, als hätte Herr Habeck gar nichts mit Ihnen zu tun. Das ist Ihr Vizekanzler! Er soll Ihr Spitzenkandidat werden.
Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie haben ein Problem bei den Grünen! Das sollten Sie endlich mal klären, aber eben nicht in aller Öffentlichkeit, weil es am Ende nur noch mehr Verwirrung schafft.
Beifall bei der CDU/CSU)
Herr Kollege Spahn, es gäbe noch eine zweite Zwischenfrage aus der SPD-Fraktion, von Herrn Rinkert. Wollen Sie die auch noch zulassen?
Ja.
Bitte schön.
Schönen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Frage zulassen. – Mich würde interessieren: Sie haben gerade behauptet, die Ampel habe in den letzten Monaten nichts getan, um den Wirtschaftsstandort Deutschland zu stärken.
Zuruf von der CDU/CSU: Genauso ist es!)
Ist Ihnen entgangen, dass wir in der letzten Woche die größte Novelle zum Bundes-Immissionsschutzgesetz seit 30 Jahren beschlossen haben? Das ist ein richtiges Wirtschaftsstärkungsgesetz. Wir haben viele Sachen geregelt,
Zuruf von der CDU/CSU: Vor allem geregelt!)
Planungs- und Genehmigungsverfahren deutlich beschleunigt – alles, was die Wirtschaft lange Zeit gefordert hat. Können Sie mir erklären, warum Sie, warum die CDU/CSU-Fraktion dagegengestimmt hat, gegen Planungsbeschleunigung, gegen ein starkes Wirtschaftsgesetz, das wir hier letzte Woche beschlossen haben?
Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
Das kann ich Ihnen tatsächlich erklären, sogar ziemlich einfach. Das Problem besteht in einem Missverhältnis zwischen Ihrer Ankündigung und der Ankündigung Ihrer Bundesregierung. Es ist ja gar nicht so, dass die Bundesregierung gelegentlich nicht auch das Richtige ankündigt.
Zuruf von der SPD: Ah, da stimmen Sie also zu!)
– Stopp! Stopp! Stopp! Ich habe gesagt, dass es gar nicht so ist, dass die Bundesregierung gelegentlich nicht auch das Richtige ankündigt. Da gibt es nur ein Problem. Wir haben das letzte Woche erlebt – vielleicht erinnern Sie sich – in der Handelsdebatte. Die Bundesregierung beschließt, dem Bundestag vorzuschlagen, Wirtschaftsabkommen mit einigen Ländern zu ratifizieren. Wir machen hier eine Debatte und merken: Schon in den die Regierung tragenden Fraktionen gibt es dafür keine Mehrheit. – Insofern stimme ich Ihnen zu: Gelegentlich bringt die Bundesregierung das Richtige auf den Weg. Das Problem ist nur: Sobald es hier bei Ihnen in der Ampel ankommt, zerfleddern Sie es so weit, dass nichts mehr von dem bisschen übrig bleibt. Das ist das Problem der Ampel.
Beifall bei der CDU/CSU
Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Dann denkt man sich: Prima, Wirtschafts- und Finanzminister sind sich endlich einmal einig! Einmal haben Herr Habeck und Herr Lindner die gleiche Meinung! Endlich ist das kapiert und verstanden, endlich passiert was! Und dann? Dann wird der Freitag zum Samstag, und dann kommt die SPD und sagt: Nein, das wird mit uns nicht passieren. Da fragt man sich: Reden Sie überhaupt mal miteinander? Geht der Vizekanzler bei einem solchen Thema, bei dem die ganze deutsche Wirtschaft seit Monaten darauf wartet, dass es ein Signal gibt, einfach raus und redet vorher nicht mit Ihnen? Wie muss man sich das vorstellen? Wie läuft das eigentlich? Wie soll denn Vertrauen in den Standort Deutschland entstehen, wenn der Wirtschaftsminister der drittgrößten Volkswirtschaft mit dem Finanzminister einen Vorschlag macht, um in der Rezession endlich mal ein richtiges Signal zu setzen, und das Erste, was passiert, ist, dass die eigenen Leute Nein sagen? Wie soll so Vertrauen entstehen? Erklären Sie mir das mal!
Beifall bei der CDU/CSU
Was für eine Regierung!
Abg. Ottmar Wilhelm von Holtz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)
Es gibt jetzt noch eine Zwischenfrage. – Sie haben offensichtlich Freude daran. Danach werde ich dann etwas strenger werden mit den Zwischenfragen. – Herr von Holtz.
Erfolgsmodell Zwischenfrage! Super!)
Schönen Dank, Herr Spahn, dass Sie das zulassen. – Ich hatte gedacht, wir reden hier über Ihr Lieferkettensorgfaltspflichtenaufhebungsgesetz. Dazu sind Sie bislang noch gar nicht gekommen, weil Sie hier auf polemische Art und Weise für Zwietracht – oder was auch immer – sorgen wollen. Deswegen starte ich mal den Versuch, über das Lieferkettengesetz zu sprechen.
Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Konrad Adenauer hat mal gesagt: Wenn die Zivilgesellschaft und die Kirchen Aufgaben des Staates übernehmen, dann muss der Staat mitziehen. – So war der Nukleus der Entwicklungszusammenarbeit entstanden.
Aha! Machen wir wieder Vorlesung?)
Heutzutage ist es so, dass alle kirchlichen Organisationen – ich kenne keine kirchliche Organisation, die es nicht tut – sich für das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz einsetzen.
Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
Wir reden sehr viel mit ihnen; ich weiß nicht, ob Sie mit den Kirchen reden. Was ich von Ihnen wissen möchte, ist: Reden Sie mit den Kirchen? Haben Sie mit den Kirchen im Vorfeld Ihres Gesetzentwurfs, den Sie vorgelegt haben, geredet, und, wenn ja, was haben die Kirchen Ihnen gesagt?
Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Zuerst einmal habe ich ja gerade dargelegt,
Haben Sie mit den Kirchen gesprochen, Herr Spahn?)
dass spätestens mit der europäischen Lieferkettenregulierung das deutsche Lieferkettengesetz obsolet ist. Das ist doch der eigentliche Punkt.
Haben Sie darüber mit den Kirchen gesprochen?)
– Ich rede genau zu dem Thema.
Was sagen denn die Kirchen dazu?)
– Wir haben mit den Kirchen darüber geredet,
Aha! Das überprüfen wir!)
aber meine Positionierung ist nicht allein von einzelnen Gesprächen abhängig, sondern von der Gesamtabwägung dessen, was gerade in der aktuellen wirtschaftlichen Lage in Deutschland notwendig ist.
Beifall bei der CDU/CSU)
Das ist doch der Punkt.
Noch einmal: Warum diskutieren wir das heute, am 13. Juni 2024? Warum?
Weil Gerd Müller, Ihr Minister, das vor drei Jahren eingeführt hat! Deswegen! Also sorry!
Abg. Ottmar Wilhelm von Holtz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] will wieder Platz nehmen)
– Ich bin noch nicht fertig mit der Beantwortung Ihrer Frage. – Weil vor nicht mal einer Woche Ihr grüner Wirtschaftsminister angekündigt hat, dass das Lieferkettengesetz pausieren soll.
Das stimmt doch gar nicht!
Das stimmt nicht!
Abg. Ottmar Wilhelm von Holtz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] nimmt wieder Platz)
– Entschuldigung, ich bin eigentlich noch nicht fertig mit der Beantwortung Ihrer Frage, aber ich nehme zur Kenntnis, dass Sie nicht mal die Gepflogenheiten hier einhalten. Alles okay.
Auch durch Wiederholung wird es nicht richtiger! Es ist immer noch falsch!
Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich höre erst einmal zu, was die Regierung sagt,
Nein, Sie hören nicht zu!)
und es wäre gut, wenn auch Sie gelegentlich zuhörten, und zwar nicht, was überall sonst gesagt wird, sondern was Ihr Wirtschaftsminister sagt, und das endlich mal umsetzten.
Beifall bei der CDU/CSU)
Ich frage mich ja, wie das eigentlich gehen soll, wenn Sie einen grünen Spitzenkandidaten haben, der hier in Deutschland antreten soll, und die grüne Fraktion bei allen entscheidenden Dingen, die der Wirtschaftsminister vorschlägt, immer Nein sagt.
Sie haben überhaupt nicht zugehört! Das ist immer noch falsch!
Zuruf des Abg. Erhard Grundl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Da wünsche ich aber gute Reise bei dieser Spitzenkandidatur. Wie soll das eigentlich funktionieren?
Beifall bei der CDU/CSU)
Die Ergebnisse der Europawahl am letzten Sonntag waren ein deutliches Misstrauensvotum gegen die Ampel.
Zuruf des Abg. Erhard Grundl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Olaf Scholz hat die Verbindung zu den Deutschen verloren. Ich glaube im Übrigen, dass sich das nicht reparieren lässt. Die Grünen sind out. Ihre Ampelpolitik stärkt vor allem die extreme Rechte und die extreme Linke im Land.
Beifall bei der CDU/CSU
Ihre Brandstifterei macht das! Ihre Brandstifterei ist dafür verantwortlich!)
Das ist der Befund vom letzten Sonntag.
12 Prozent der Wahlberechtigten sagen: Die allgemeine wirtschaftliche Lage ist gut. – Nur noch 12 Prozent! Man erinnere sich: Vor drei, vier Jahren waren es fünfmal so viele. Da sagten 60 Prozent: Die wirtschaftliche Lage ist gut.
Zwischendurch gab es einen Krieg!)
Wachstum müsste also ganz oben auf der Agenda stehen. Und was machen Sie? Was muss eigentlich noch passieren?
Zuruf des Abg. Erhard Grundl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Wenn man sich das am Sonntagabend angeguckt hat: Da kommen die Wahlergebnisse, und Ihre Leute sagen im Fernsehen: Wir müssen unsere Politik besser erklären. – Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, ihr müsst die Politik nicht besser erklären, ihr müsst eine andere Politik machen, damit Vertrauen in den Standort Deutschland zurückkehren kann.
Beifall bei der CDU/CSU)
Vertrauen gewinnt man durch Taten.
Ja, durch Maskendeals!)
Ankündigungen, die nichts zählen, sind Gift für die Demokratie.
Beifall bei der CDU/CSU)
Folgenlose Ankündigungen sind ein Konjunkturprogramm für Extremisten. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wenn der Vizekanzler und Wirtschaftsminister und der Finanzminister der Bundesrepublik Deutschland der deutschen Wirtschaft, dem deutschen Mittelstand ankündigen, dass das deutsche Lieferkettengesetz ausgesetzt wird und damit massive Bürokratie wegfällt, dann, finde ich, hat die deutsche Öffentlichkeit ein Recht darauf, dass das auch eine Folge hat.
Sie haben das Gesetz eingeführt! Sie waren das!)
Denn sonst sind die Worte dieser Regierung nichts mehr wert, und das ist das eigentliche Problem.
Beifall bei der CDU/CSU
Sie haben das Gesetz selbst eingeführt! Sie haben dem zugestimmt!)
Michael Gerdes hat das Wort für die SPD-Fraktion.
Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)