Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Wahlprüfung der Bundestagswahl ist diesem Haus eine höchst verantwortungsvolle Aufgabe zugewiesen. Was am 26. September 2021 im Land Berlin geschehen ist, hat das Vertrauen vieler Menschen in demokratische Entscheidungsprozesse massiv erschüttert.
Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Nur eine sorgsame Aufarbeitung auf allen zuständigen Ebenen kann das Vertrauen in die Wahl zumindest teilweise wiederherstellen.
Wie schon angesprochen, ist die Aufgabe, die Wahl auf Wahlfehler zu überprüfen und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen, zunächst Sache des Bundestages, wie es Artikel 41 Grundgesetz uns vorschreibt.
Wir schlagen Ihnen heute vor, zu beschließen, dass die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag im Land Berlin in insgesamt 431 Wahlbezirken wiederholt wird.
Fest steht: Die Organisation der Wahl zum Deutschen Bundestag war im Land Berlin von schwerwiegenden strukturellen Mängeln geprägt. Wenn in einem Wahllokal falsche Stimmzettel ausgegeben werden oder Wahlhandlungen für viele Minuten unterbrochen werden müssen, weil nicht genügend richtige Stimmzettel zur Verfügung stehen, dann liegen darin klare Wahlfehler.
Besonders viele Einsprüche bezogen sich auf Fälle, in denen Wahllokale weitaus länger als bis 18 Uhr geöffnet hatten. Es entspricht der Lebenserfahrung und der bisherigen Spruchpraxis des Wahlprüfungsverfahrens, dass nicht jede Warteschlange automatisch auf einen Wahlfehler schließen lässt; wer vor 18 Uhr am Wahllokal ist, der soll auch noch abstimmen können. Erreicht die Wartezeit jedoch eine gewisse Länge, so kann man daraus auf ein organisatorisches Versäumnis schließen. In diesem Fall kann dann ein Wahlfehler vorliegen. Nach Vorschlag des Ausschusses ist eine solche Schlussfolgerung jedenfalls ab 18.30 Uhr plausibel.
Bei der Entscheidung, ob ein festgestellter Wahlfehler auch zu einer Wahlwiederholung führt, ist stets zu berücksichtigen, ob dieser Fehler überhaupt einen Einfluss auf die Zusammensetzung des Bundestages haben konnte. Nur wenn eine – es wurde schon angesprochen – Mandatsrelevanz gegeben ist und wenn eine Wahlwiederholung überdies verhältnismäßig ist, darf sie auch stattfinden; denn einer aus einer Wahl hervorgegangenen Volksvertretung kommt auch Bestandsschutz zu; dies folgt unmittelbar aus dem Demokratieprinzip.
Auch in Berlin haben weitaus mehr Wählerinnen und Wähler ihr vornehmstes Recht in der Demokratie fehlerfrei ausgeübt, als Wählerinnen und Wähler durch Wahlfehler an der Abgabe ihrer Stimme gehindert wurden. Ein Indiz ist tatsächlich die Wahlbeteiligung von 75,2 Prozent.
Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
In den Bestand eines gewählten Bundestages darf daher nur insoweit eingegriffen werden, wie es nötig und verhältnismäßig ist, um mandatsrelevante Wahlfehler und deren Folgen zu heilen.
Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet diesen Gedanken als das Gebot des geringstmöglichen Eingriffs.
Weil das in der öffentlichen Diskussion oft durcheinandergebracht wird, möchte ich zur Unterscheidung der Einsprüche, über die wir hier entscheiden, und der Einsprüche zur Wahl des Abgeordnetenhauses von Berlin, über die nächste Woche entschieden wird, noch mal erläutern: Die Wahlfehler, beispielsweise falsche Stimmzettel, waren bei den am 26. September 2021 vorgenommenen Wahlen nicht automatisch deckungsgleich. Außerdem ist die individuelle Mandatsrelevanz eines festgestellten Wahlfehlers mit Blick auf das Land typischerweise deutlich geringer als mit Blick auf den Bund.
Zuruf: Wieso? Geht es beim Abgeordnetenhaus um weniger Mandate?)
Entsprechend sind auch Unterschiede bei möglichen Veränderungen in der Zusammensetzung der jeweiligen Parlamente.
Auch bei der Prüfung der Wahl zum Abgeordnetenhaus gilt das Gebot des geringstmöglichen Eingriffs. Zur vorläufigen Rechtsauffassung des Landesverfassungsgerichts Berlin erklärte der Berliner Verfassungsrechtler Christian Pestalozza
Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)
deshalb am 29. September 2022 gegenüber der dpa – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin –:
Der Umfang einer Wahlwiederholung muss im Verhältnis zu den Wahlfehlern stehen. Man kann nicht flächendeckend neu wählen, wenn die Wahl zu großen Teilen fehlerfrei war.
Diese Auffassung sollte sich auch der Deutsche Bundestag zu eigen machen!
Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Es ist das gute Recht jeder Fraktion, gegen eine solche Entscheidung Wahlprüfungsbeschwerde einzulegen. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in dieser Sache hätte den Vorteil, dass Karlsruhe auch zu den bisher nicht höchstrichterlich geklärten Fragen – einige wurden angesprochen – Stellung nehmen könnte.
Noch ein abschließender Gedanke: Mit der heutigen Entscheidung allein ist es natürlich nicht getan. Das Land Berlin muss seine schweren organisatorischen Mängel abstellen. Es ist peinlich und unwürdig, dass die Behörden in der Bundeshauptstadt nicht in der Lage waren oder sind, einen im Wesentlichen fehlerfreien Wahlprozess zu organisieren.
Vielen Dank.
Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Für die Fraktion Die Linke hat das Wort Alexander Ulrich.
Beifall bei der LINKEN)