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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Jongen, wie wollen Sie sich ernsthaft mit Antisemitismus beschäftigen, wenn Sie selbst ein rein instrumentelles, parteitaktisches Verhalten gegenüber Antisemitismus pflegen, wie Sie es gerade wieder vorgeführt haben?
Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP
Widerspruch des Abg. Dr. Marc Jongen [AfD])
Und wie – erklären Sie mir das – wollen Sie über Hypermoralismus urteilen, wenn Sie selber amoralische Politik machen? Ich verstehe das nicht.
Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Thomas Lutze [DIE LINKE])
Wenn wir heutzutage über den Willen der Ukraine sprechen, Mitglied der EU zu werden, dann können wir nicht über die deutsche Besatzungsherrschaft auf ukrainischem Boden schweigen. Und wenn wir urteilen und Ratschläge zur Haushaltsdisziplin in Griechenland geben oder zu den dortigen humanitären Standards, zum Staatssystem, dann sollten wir uns immer die Mühe machen, die Perspektive der Griechinnen und Griechen selbst zu betrachten und ihrer kollektiven Erinnerung an die Terrorherrschaft der Deutschen während der Besatzung dort. Das ist notwendig. Das bedeutet auch, Europa nicht nur abstrakt als Projekt der Versöhnung zu begreifen, sondern ganz konkret als eine auch deutsche Verantwortung, die aus den vielen Facetten der unerträglichen Besatzungsherrschaft über ganz Europa erwächst. Das ist der Kern der Verantwortung. Deshalb ist insbesondere Deutschland gefragt, das zu dokumentieren und entsprechend im Jetzt zu handeln.
Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Wenn wir das so sehen und so begreifen, dann müssen wir uns klarmachen, dass es eben viel zu einfach ist, von einem Hitlerismus zu sprechen. Wir müssen uns klarmachen, dass dieses NS-System, die Besatzungsherrschaft aus der Mitte der Gesellschaft möglich war, dass, wie es Kershaw ins Zentrum seiner Studien stellte, eben sehr viele dem Führerstaat zuarbeiteten. In Jozefow zum Beispiel, auf polnischem Boden, stellte Major Trapp, Anführer des deutschen Reserve-Polizeibataillon 101, ungefähr 500 Leuten frei, an Erschießungskommandos teilzunehmen, Frauen, Kinder und angeblich nicht arbeitsfähige ältere Männer zu erschießen.12 von ihnen – ganze 12 – nahmen diese Möglichkeit wahr. Alle anderen waren Menschen, die tagtäglich Hunderte, wenn nicht Tausende ermordeten und am Abend Brahms hörten, Briefe an ihre Familie schrieben oder sich besoffen.
Um sich diese und viele andere Formen der Besatzungsherrschaft klarzumachen, brauchen wir ein solches Zentrum. Wir brauchen es auch, um zu begreifen, dass jede Form der Normalisierung, der Bagatellisierung der NS-Herrschaft und der Besatzungsherrschaft in ganz Europa und auch jede Form der Instrumentalisierung, egal von wem – ich weise da auf aktuelle Debatten hin –, unbotmäßig ist und dass es auch in Deutschland nicht duldbar ist, wenn wir im öffentlichen Raum NS-„Stürmer“-Ästhetik erleben, weil ebendiese Ästhetik im Original, diese Bildsprache zu den Bedingungen der Möglichkeit der Massenmorde durch Deutsche in Jozefow gehörte.
Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)