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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im März 1992 waren die Transformation, der Strukturbruch in der Industrie, die Veränderungen in jeder Alltagssituation im Leben der Menschen in den damals noch jungen neuen Bundesländern in vollem Gange. Nach circa anderthalb Jahren hatte sich einfach alles verändert. In jedem Bundesland gab es ein neues Schulsystem, die neuen Bundesländer wurden gegründet. Es gab unterschiedliche Zuständigkeiten von Bund, Ländern, Regierungsbezirken, die es noch gab, Landkreisen, Städten, Gemeinden – all das wurde eingeübt. Betriebe, in denen ganze Generationen gearbeitet hatten – 40 Jahre lang hatten sie Arbeit und Alltag, Urlaub und Zugehörigkeit geprägt –, waren verschwunden. Sie wurden entweder geschlossen oder erst verkauft und dann geschlossen.
Binnen kurzer Zeit waren 1 Million Menschen arbeitslos geworden. Die Zahl der Beschäftigten sank aber noch dramatischer: 9,8 Millionen waren es im Herbst 1989, 6,7 Millionen Ende 1991. 3,2 Millionen Menschen waren aus dem Arbeitsleben verschwunden; ein Drittel der Beschäftigten Ostdeutschlands. Und das war erst der Anfang. Der Mut der Friedlichen Revolution, die Freude über die deutsche Wiedervereinigung wurden in vielen Familien von Ungewissheit, Zukunftsangst überdeckt. Nicht nur die politischen Opfer der kommunistischen Diktatur verlangten nach Rehabilitation, nach Wiedergutmachung, nach Anerkennung – in allen Familien wurden Fragen gestellt.
Meine Mutter hat das mal so beschrieben: Entlassen und freigestellt in Ersatzmaßnahmen, in Arbeitsmarktmaßnahmen wurde von unten nach oben: Stellvertretende Direktoren wurden Abteilungsleiter, Abteilungsleiter wurden Gruppenleiter, Gruppenleiter wurden Mitarbeiter. Und die jeweils ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mussten gehen. – So hielt man sich länger im Job. Das System der DDR funktionierte noch; denn Gruppenleiter, Abteilungsleiter, stellvertretende Direktoren waren mindestens SED- oder Blockpartei-Mitglied.
Ich war 27 Jahre alt und die jüngste Abgeordnete im Landtag von Sachsen-Anhalt. Meine Eltern waren 56 Jahre alt, so alt wie ich heute bin, und im Vorruhestand. Auch das ist mit eine Folge der SED-Diktatur, der geteilten Welt, der geteilten politischen, militärischen und ökonomischen Systeme. In diese Zeit hinein wurde die erste Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur Aufarbeitung der Folgen der SED-Diktatur geboren. 27 Männer und Frauen, Mitglieder des Deutschen Bundestages aller Fraktionen, Wissenschaftler, Wissenschaftlerinnen, ein Theologe, ein Schriftsteller, ein Jurist, ein Publizist, stellten sich einer riesengroßen Aufgabe. Dafür herzlichen Dank.
Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Gitta Connemann [CDU/CSU] und Sören Pellmann [DIE LINKE])
Anfang der 90er-Jahre machte sich aus vielen Gründen Unzufriedenheit breit. Es wurde in der Öffentlichkeit über Tribunale diskutiert, die über die juristischen Verfahren hinaus moralische Urteile fällen, politische Schuld diskutieren und zuweisen sollten. Es wurde über eine Wahrheitskommission nach südafrikanischem Vorbild nachgedacht.
Wenn ich mich richtig erinnere, war es Markus Meckel – er war damals Mitglied des Bundestages –, der erzählt hat, dass er nach Gesprächen mit Martin Gutzeit und einigen erfahrenen Parlamentarierinnen und Parlamentariern den Vorschlag in die Öffentlichkeit gebracht hat, eine Enquete-Kommission zu bilden. Dass dieser Vorschlag eines damaligen Oppositionsabgeordneten im Bundestag aufgenommen und realisiert wurde, spricht für die demokratische Diskussionskultur unseres Hauses. Es spricht auch dafür, dass in unserer parlamentarischen Demokratie Mehrheiten auch jenseits der parteipolitischen Mehrheiten möglich sind. Ich will allen aus den damaligen Regierungsfraktionen danken, dass dies möglich war. Es war gut, dass der Bundestag als gewähltes und als legitimiertes Gremium sich dieser Aufgabe gestellt hat.
Die Kommission sah es als ihre wichtigste Aufgabe an, die öffentliche Kenntnis über die DDR zu erweitern, Beurteilungen zu differenzieren, unterschiedliche Lebenserfahrungen zur Sprache kommen zu lassen. Sie fragte nach der Funktionsweise des Systems der Repression, nach Verantwortlichkeiten, nach der Situation der Opfer und ihrer Perspektive, nach dem Alltagsleben unter den Bedingungen einer Diktatur. Und immer wieder wurde auch die gesamtdeutsche Perspektive in den Blick genommen. Die Aufarbeitung der DDR-Geschichte war damals und ist auch heute noch eine gesamtdeutsche Aufgabe.
Beifall der Abg. Maja Wallstein [SPD])
Dass sie als eine solche gesehen wird, wurde damals erst nach und nach wahrgenommen, und ehrlich gesagt müssen wir alle auch heute noch darum kämpfen, dass das so ist.
Lassen Sie mich deshalb aus dem Bericht der Enquete-Kommission zitieren:
Dabei war sich die Enquete-Kommission stets bewusst, dass die historisch-politische Aufarbeitung der SED-Diktatur auf eine ungleiche Betroffenheit der west- und der ostdeutschen Bevölkerung, der Menschen in den alten und neuen Bundesländern trifft. Während an die Westdeutschen, die von der SED-Diktatur zumeist nicht existenziell berührt waren, kaum kritische Fragen gestellt werden, sehen sich viele Ostdeutsche in einer Situation der Selbstrechtfertigung.
Die Enquete-Kommission macht vielmehr auf die Gefahr aufmerksam, dass durch verständnislose, unsensible „Vergangenheitsbewältigung“ gegenseitige Vorurteile unter den Deutschen in Ost und West wiederaufleben oder neu entstehen können.
Das wirkt bis heute nach: gefühlte Demütigung, Abwertung, Verluste, Kämpfe um Neuanfang – wir reden heute von der Nichtanerkennung der Lebensleistung, oder eben doch? Und es wirkt auch nach in Wahlergebnissen und in Resignationen. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Die deutsche Wiedervereinigung infolge der Friedlichen Revolution, möglich gemacht von mutigen ostdeutschen Bürgerinnen und Bürgern und akzeptiert von den damaligen Alliierten, ist ein riesengroßer Glücksfall.
Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN und der Abg. Gitta Connemann [CDU/CSU])
Das Leben in einer Demokratie, das Lernen und Arbeiten, sich entwickeln zu können, Chancen zu haben, all das ist wunderbar. Aber die überwiegende Last der Wiedervereinigung haben die Ostdeutschen getragen; darauf – und dass dies anerkannt gehört – hat schon die erste Enquete-Kommission hingewiesen. Ein weiteres Zitat:
Wenn anderenorts hervorgehoben wurde, dass die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit hauptsächlich die Menschen im ehemaligen sozialistischen Staat deutscher Nation berührt, so heißt dies keineswegs, dass die Bürger in der alten Bundesrepublik kaum oder gar nicht davon betroffen wären. Das Gegenteil ist richtig: „Sie sollen sagen,“ – so hat Jürgen Fuchs in der letzten Anhörung der Enquete-Kommission „zugespitzt und ungerecht-polemisch“, wie er selber einräumte, gefragt – „warum sie koexistiert haben, warum sie sich mit der Teilung und der Verletzung der Menschenrechte abfanden.“
Lassen Sie mich etwas deutlicher werden: Wir haben uns wirklich über die Westpakete zu Weihnachten gefreut: ein Paket Kaffee, zwei Tafeln Schokolade, löslicher Zitronentee, Lux-Seife, Dominosteine. All das in der Regel im Wert von 30 D‑Mark; denn diesen Betrag konnte man von der Steuer absetzen. Hat man auf politischer Ebene an die Wiedervereinigung geglaubt? Ich glaube, man war genauso überrascht davon wie wir, dass die Revolution friedlich war.
Mir ist heute klarer als damals, dass ein politisches Eingreifen nicht möglich war. Mir ist heute klarer als damals, dass ein Eingreifen Krieg bedeutet hätte, Krieg zwischen der NATO und dem militärischen Ostblock; das wollte keiner. Und fallen Ihnen wie mir die Parallelen auf? Mir gehen sie seit dem Angriff Putins auf die Ukraine nicht mehr aus dem Kopf. Wieder – diesmal auch wir Ostdeutschen – stehen wir da, sehen verzweifelt zu, wie Menschen ermordet werden, eine Demokratie überrannt wird, Menschen fliehen, Familien auseinandergerissen werden, weil ein militärisches Eingreifen unsererseits noch mehr Krieg bedeuten würde.
Ich verstehe das intellektuell; aber ich kann es emotional nicht akzeptieren. Das Gleiche gilt übrigens für Hongkong, für Taiwan, für Belarus – was kommt noch? –, Georgien, Moldau. Wenn die Demokratien dort hoffentlich doch siegen, dann werden sie uns mit zeitlichem Abstand das Gleiche fragen, was die Enquete-Kommission die alte Bundesrepublik gefragt hat. Ich werde keine zufriedenstellenden Antworten haben.
Im Ergebnis der Enquete-Kommission wurden dem Deutschen Bundestag Empfehlungen vorgelegt. Einige davon sind Daueraufgaben, zum Beispiel die Rehabilitierungsgesetze für die Opfer der kommunistischen Diktatur – dort gibt es immer wieder neue Erkenntnisse –; die Weiterentwicklung des Gedenkstättenkonzeptes. Gut funktioniert hat die Gründung der Bundesstiftung Aufarbeitung – das ist ein Ergebnis der Enquete-Kommission –; sie wurde schnell umgesetzt und hat gut gearbeitet. Vielen Dank, Sie haben in der Zeit Großartiges geleistet. Die Forschung zu Diktatur und Transformation steckt noch in den Kinderschuhen. Das werden wir in dieser Legislatur angehen; darum müssen wir uns kümmern. Die Fragen, die die Enquete-Kommission aufgeworfen hat, sind damals wie heute aktuell; denn Geschichte ist nie abgeschlossen.
Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)