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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Durch einen Infekt ließ mich heute mehrmals meine Stimme im Stich. Ich hoffe, das wird jetzt nicht
passieren. Aber bitte verzeihen Sie mir, falls es passieren sollte.
Die Zeugen Jehovas, Jehovas Zeugen, waren mit ihrem konsequenten religiösen Zeugnis ein herausragendes Beispiel für Haltung und Menschlichkeit. Doch
sie waren auch unbeugsame Zeugen gegen den NS-Unrechtsstaat, indem sie klar und unmissverständlich aussprachen, was der Fall war – anders als die vielen
anderen.
Ich möchte in diesem Moment auch persönlich werden. Ein benachbartes Ehepaar, beide Jehovas Zeugen, hat mir vor fast genau einem Jahr den
berührendsten Brief geschrieben, den ich jemals bekommen habe. Anlass waren Drohungen von Neonazis. Dort schilderten sie ausführlich ihr Verhältnis zum Staat,
ihre politische Neutralität und legten Zeugnis ab über ihr Verständnis von Mitgefühl, Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit. Bei diesen beiden – weil ich es
versäumt habe, das wirklich vis-à-vis zu tun, und stellvertretend für alle Jehovas Zeugen – möchte ich mich entschuldigen und um Verzeihung bitten – im Wissen,
dass Wiedergutmachung überhaupt nicht, auch nicht annähernd, denkbar ist, entschuldigen für das, was der deutsche Staat in der NS-Zeit all ihnen angetan hat,
aber auch entschuldigen für die zweite Schuld – das Vergessen, Verdrängen, Verharmlosen in der Bundesrepublik –, und auch für eine dritte Schuld – seien wir
doch ehrlich –: Immer noch ist das Verächtlichmachen, das Sich-nebenbei-Lustigmachen über Stände von Jehovas Zeugen und über Haustürbesuche Teil der
Alltagskultur in Deutschland. Es ist eine Schande, dass es das ist. Und wir müssen alle dazu beitragen, dass es das nie mehr sein wird.
Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN)
Denn diejenigen, über die nicht nur in den letzten Jahrzehnten, sondern immer noch nicht stets respektvoll und viel zu oft verächtlich gesprochen
wird, haben eine entscheidende Frage verstanden. Oft wird ja die Frage aufgeworfen: Wie hätte ich mich verhalten? Die eigentliche Frage ist aber: Wie hätte ich
mich verhalten sollen? Jehovas Zeugen richteten ihr Verhalten genau an diesem Soll aus. Der NS-Staat war dadurch möglich, dass ganz viele freiwillig mitmachten,
schwiegen, das System am Laufen hielten oder auch denunzierten, mordeten und mitmachten. Das aber verweigerten Jehovas Zeugen konsequent.
Und sie benannten, was war: Am 20. Juni 1937 veröffentlichten sie unter größter Gefahr in einer reichsweit – wie es damals hieß – einmaligen,
logistisch unfassbaren Aktion, in einem offenen Brief, das, was die Realität in Deutschland war: Sie bekundeten Solidarität mit Jüdinnen und Juden und allen
Verfolgten. Sie widersprachen dem Rassismus. Und sie nannten Täter und Orte beim Namen. Sie nannten die Orte, an denen gemordet und verfolgt wurde, und wer
mordete und verfolgte und was die Realität war in Zuchthäusern, Konzentrationslagern und Gefängnissen – das, worüber andere schwiegen, auch die großen
Religionsgemeinschaften schwiegen.
Ich verneige mich vor Jehovas Zeugen, diesem Ehepaar und allen anderen, die waren, die kamen und die kommen werden. Ich verneige mich, weil sie in
ihrer Verweigerung gegenüber dem totalitären Zugriff des Staates und in ihrem Bekenntnis zur Neutralität uns allen ein Vorbild gewesen sind, was
staatsbürgerschaftliches Handeln bedeutet, was Menschlichkeit bedeutet, was Mitmenschlichkeit bedeutet und was Verantwortungsbewusstsein sein kann und sein
muss.
Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])
Nächster Redner ist Michael Frieser für die CDU/CSU-Fraktion.
Beifall bei der CDU/CSU)