Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Am mutigsten waren immer wieder die Zeugen Jehovas.“ Mit diesen Worten beschrieb die im Konzentrationslager Moringen inhaftierte Kommunistin Gertrud Keen den Widerstand der Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus. Auch wenn ihr Anteil an allen Inhaftierten nur etwa 5 bis 10 Prozent betrug – ihre Standhaftigkeit im Glauben, ihre Haltung und ihr Verhalten anderen Mithäftlingen gegenüber waren auffällig und ungewöhnlich. So beschreibt es auch Nanda Herbermann, die als Mitarbeiterin eines regimekritischen Jesuitenpaters ins KZ Ravensbrück verschleppt worden war. Ich zitiere sie:
Er
– gemeint ist der Lagerkommandant –
wußte, daß ihr Glaube jegliche Arbeit für Kriegszwecke strengstens untersagt. Er wollte sie dazu zwingen.
Nämlich für Soldaten Beutel zu nähen.
Aber allesamt verweigerten sie standhaft die Ausführung dieses Befehls. Der Kommandant, zum Äußersten gereizt, ordnete für jeden Bibelforscher zehn Stockhiebe an. Ich sehe noch diese Prozession der meist alten, lieben Mütterchen. Nun wurden sie wie eine Horde Vieh zur Schlachtbank getrieben, in diesem Fall zum Bock, auf den sie der Reihe nach geschnallt wurden. Und dann ging es los, der Reihe nach. Sie aber beteten, still und ergeben. Heroisch haben sie sich gehalten, standhaft diese zehn Stockhiebe für ihren Glauben entgegengenommen. Als sie hiernach aus dem Zellenbau wieder hinaustraten, versuchten sie, Haltung zu bewahren, so gut es ging. Viele von ihnen schlichen, gekrümmt und gebeugt vor Schmerz, mit ihren geschändeten, alten Körpern dahin. Es waren unter ihnen manche Frauen von sechzig Jahren und darüber. Manche der alten Mütterchen haben diese Schläge nicht überstanden.
Nahezu grotesk mutet ein anderes Schicksal an: Ab 1942 zogen SS-Angehörige immer häufiger Zeuginnen Jehovas zum Dienst in ihren privaten Haushalten heran. Die Nazis verlangten konsequent nach den so akkuraten Frauen, vor allem für die Betreuung ihrer Kinder. Sie nutzten ihre religiöse Überzeugung schamlos aus, die sie gewissenhaft und fleißig alle Arbeiten ausführen ließ, bei denen sie nicht in Konflikt mit ihrem Glauben kamen – die Frauen, denen sie zuvor Hunderte Kinder weggenommen und in Erziehungsheime oder NS-treue Familien gesteckt hatten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am 24. Juni 1933 wurden die Zeugen Jehovas in ganz Deutschland verboten. Von den damals circa 25 000 Anhängern dieser Glaubensgemeinschaft wurden in der NS-Zeit ungefähr 10 000 inhaftiert, 2 000 kamen ins KZ, 1 700 Menschen starben oder wurden ermordet, darunter circa 250 wegen Kriegsdienstverweigerung. Heute, 90 Jahre später, beschließt der Deutsche Bundestag, ihnen ein eigenes Denkmal zu widmen und damit öffentlich an die zu erinnern, die um ihres Glaubens willen mit unerbittlicher Härte bekämpft, verfolgt und ermordet wurden; die eher den eigenen Tod hinzunehmen bereit waren, als sich an Kriegshandlungen zu beteiligen. Heute ehren wir diejenigen, die für die nationalsozialistischen Machthaber ebenso Feinde waren wie für die SED-Diktatur in der ehemaligen DDR. Heute. Erst heute.
Kurz nach 1945 waren die Gefangenen mit dem lila Winkel in den Zeitzeugenberichten und in den Beratungen des Parlamentarischen Rates noch präsent. Im Laufe der Zeit ist ihr Schicksal allerdings immer mehr in Vergessenheit geraten und verdrängt worden. All denen, die diesem Prozess mit ihrer Arbeit entgegengewirkt haben, den Wissenschaftlern der Arnold-Liebster-Stiftung oder der Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“, gilt heute unser ganz besonderer Dank.
„Was geschah, ist eine Warnung. Sie zu vergessen, ist Schuld“, so sagt es der Philosoph Karl Jaspers. Es ist und bleibt unsere Verantwortung, an sie zu erinnern, unabhängig davon, wie wir zu ihrer Weltanschauung, ihren Glaubenssätzen und der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas als Institution stehen. Denn wenn es immer weniger Zeitzeugen gibt, ist es umso wichtiger, dass wir den Zahlen Gesicht und der Erinnerung Raum geben. Dazu brauchen wir neue Wege und Anlässe, um Biografien erfahrbar und Austausch und Begegnung möglich zu machen, genauso wie Orte, an denen Wissen und Zusammenhänge vermittelt werden und Platz für Trauer und Mitgefühl ist.
Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen, insbesondere der Koalition, Marianne Schieder, Thomas Hacker und Erhard Grundl, für die gute kollegiale Zusammenarbeit an diesem gemeinsamen Antrag: die Entscheidung für ein Denkmal am Goldfischteich im Berliner Tiergarten, das an die vielen Tausend Opfer der Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus erinnert, ihren Widerstand angemessen würdigt und ihrem Leid respektvoll Ausdruck verleiht.
Lassen Sie mich mit Karl Jaspers auch schließen:
Es war möglich, dass dies geschah, und es bleibt jederzeit möglich. Nur im Wissen kann es verhindert werden.
Vielen Dank.
Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN)
Als Nächstes erhält das Wort Marianne Schieder für die SPD-Fraktion.
Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)