- Bundestagsanalysen
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der Aufstand vom 17. Juni 1953 ist vielen Menschen in Deutschland noch immer ein Begriff. Im kollektiven Erinnern steht er aber bei der Betrachtung der deutsch-deutschen Geschichte deutlich hinter dem Mauerbau 1961 und den Ereignissen des Herbstes 1989 zurück.
Klar, man weiß natürlich etwas über die Ereignisse des 17. Juni. Aber warum es zu diesem spontanen Aufstand kam und dass er eben nicht nur auf Ostberlin beschränkt war, ist heute vielen gar nicht mehr bewusst. Spätestens seit 1952 hatten sich die Lebensumstände, hatte sich das tägliche Leben der Menschen in der gesamten DDR massiv verschlechtert.
Die Bodenreform der Landwirtschaft mit Zwangskollektivierungen und mit einer Missernte, die Unterdrückung privater Unternehmen und Handwerker sowie der Versuch der DDR-Führung, vorwiegend in die Schwerindustrie zu investieren, hatten die Versorgungslage in ganz Ostdeutschland auf das Niveau der Nachkriegsjahre zurückversetzt.
Dem Arbeitsmarkt mangelte es an Fachkräften, und durch die Bildung der Kasernierten Volkspolizei wurden diesem noch zusätzlich wertvolle Kräfte entzogen. Den Menschen ging es schlecht. Hunderttausende verließen die DDR Richtung Westen. Die angekündigte Normenerhöhung war hier nur noch der Funke, der das Pulverfass in Brand setzte. Daran änderte auch der eilig von der SED-Führung angekündigte sogenannte Neue Kurs nichts mehr.
Nicht nur in Berlin, auch im Chemiedreieck Halle-Leuna-Bitterfeld, in Leipzig, Magdeburg, Altenburg, Gera, Chemnitz, in insgesamt rund 700 Orten in der ganzen DDR gingen über 1 Million Menschen auf die Straße. Es waren eben nicht nur die Bauarbeiter der Stalinallee aus Ostberlin, sondern auch die Bergleute der Wismut, die Eisenbahner und viele weitere.
Zuruf des Abg. Dr. Götz Frömming [AfD])
Es wurden SED-Kreisleitungen, Verwaltungen, Volkspolizei-Kreisämter, Dienstgebäude des MfS und auch Gefängnisse gestürmt und besetzt. In den Kreisen Niesky und Görlitz beispielsweise wurde für wenige Stunden das SED-Regime faktisch beseitigt.
Niedergeschlagen wurde der Aufstand durch die Ausrufung des Ausnahmezustands in Berlin und durch den Einsatz von 20 000 sowjetischen Soldaten und ihren Panzern. Es wurde geschossen. Und tragischerweise hat der Aufstand vom 17. Juni im Nachgang sogar zur Festigung des DDR-Regimes beigetragen.
Für die SED Führung war der 17. Juni ein Schock. Aber: Die Reihen schlossen sich, die Partei wurde diszipliniert: Justizminister Max Fechner entlassen, Stasichef Wilhelm Zaisser abgesetzt, der Chefredakteur des „Neuen Deutschland“, Rudi Herrnstadt, seiner Funktion entbunden. Ulbricht warf ihnen Fraktionsbildung, Sozialdemokratismus und Versöhnlertum vor. Diese Wortwahl ist übrigens bezeichnend.
Aber zurück zur Ausgangsbeobachtung: Warum nimmt der 17. Juni in der öffentlichen Wahrnehmung nur relativ wenig Raum ein? Immerhin war doch dieser Tag bis 1990 der Tag der deutschen Einheit und gesetzlicher Feiertag in der Bundesrepublik. Zunächst weil es eben ein vornehmlich westdeutscher Feier und Gedenktag war. In der DDR gab es keine Aufarbeitung und keine Erinnerung an die Ereignisse.
Kein Wunder!)
Mit 15 habe ich meinen ganzen Mut zusammengenommen und in meiner Schule im Staatsbürgerkundeunterricht nachgefragt, was denn eigentlich an diesem 17. Juni war. Die Antwort war so klar wie erwartbar: eine versuchte Konterrevolution, ein faschistischer Putschversuch, organisiert von amerikanischen Agenten; westliche Provokateure und RIAS hätten den Aufstand gezielt vorbereitet und propagiert – Frau Teuteberg hat es schon angesprochen.
Bitter für mich war, dass ich von meinen eigenen Eltern die nahezu wortgleiche Antwort bekam. Es war halt ein anderes Elternhaus als bei meiner Kollegin Katrin Budde. Und meine Eltern wussten bereits, dass ich in der Schule gefragt hatte.
Das ist aber ein schräges Elternhaus!)
– Das können Sie stecken lassen. Also, ich kann ja nichts für meine Eltern.
Ja, wirklich!)
Ich lasse mir von Ihnen meine Geschichte bestimmt nicht vorwerfen.
Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN)
Das können Sie stecken lassen.
Zuruf des Abg. Erhard Grundl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Es ist halt alles ein bisschen komplizierter als das, was Herr Jongen und Herr Frömming aus dem Universitätswissen hier zitieren. Es war alles ein bisschen komplizierter. Und auch die Familien hatten damit Probleme, auch meine Familie hatte Probleme, auch 1989. Wir haben viel diskutiert. Und als dann die Mauer gefallen war, habe ich meine Eltern zwei Jahre gar nicht gesehen; das spielt auch eine Rolle. Die Geschichte ist auf jeden Fall nicht einfach gewesen; aber von Ihnen lasse ich mir das nicht sagen.
Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN
Bravo!)
Aber später – auch das gehört dazu – erlebte ich, dass in den Arbeitskollektiven und im privaten Raum ganz andere Geschichten über den 17. Juni kursierten. Da erzählten die älteren Kollegen durchaus stolz den Jüngeren von dem Tag, als die Genossen ihr Parteiabzeichen vom Revers genommen und versteckt haben, die Brigade vollständig streikte und gegen Mittag in die Stadt zog.
Es wird von jenen erzählt, die nach dem 17. im Gefängnis gesessen hatten. Aber man schaute sich dabei auch vorsichtig um, ob nicht gerade jemand mithört. Und diese Differenz zwischen der offiziellen Darstellung und den Berichten vom eigenen Erleben derjenigen, die damals dabei waren, prägte, und das nicht nur beim 17. Juni. Deswegen ist diese Diskussion heute, an diesem Tag, und auch morgen so wichtig.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie des Abg. Pascal Meiser [DIE LINKE])
Vielen Dank, Herr Kollege. – Die AfD-Fraktion hat um eine Kurzintervention für den Kollegen Ziegler gebeten; diese lasse ich zu. – Herr Kollege Ziegler, Sie haben das Wort.
Ach, Gottchen!)
– Diese Bemerkung können Sie sich bitte sparen, wenn ich eine Kurzintervention zulasse.