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Frau Präsidentin! Abgeordnete! Nach diesem Hohelied auf den Einsatz von Lohndumping als Wettbewerbsmoment etwas mehr Gelassenheit: Die
Bundesrepublik Deutschland kann auf viele Jahre erfolgreicher Tarifpartnerschaft zurückblicken. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen: hohe Tarifbindung, eine
starke Mittelschicht, wenige Geringverdienende.
Seit Mitte der 90er-Jahre allerdings ist die Tarifbindung von rund 85 Prozent auf jetzt 53 Prozent im Westen und 43 Prozent im Osten gesunken, und ein
Ende der Talfahrt ist noch nicht abzusehen. Trotz Einführung des gesetzlichen Mindestlohns ist der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten dabei nicht gesunken, was
auch nicht überraschen kann, legt der Mindestlohn doch nur die Lohnuntergrenze fest. Auch ein höherer Mindestlohn reicht nicht, um die mittleren
Einkommensschichten wieder zu stärken. Dies kann nur durch eine Erhöhung der Tarifbindung gelingen,
Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)
einer Tarifbindung, die mit ihren differenzierten Lohngittern und ihren zahlreichen flankierenden Regelungen in den Manteltarifverträgen eine faire
Entlohnung für besonders belastende und verantwortungsvolle Arbeit sicherstellt.
Eine hohe Tarifbindung ist daher das wichtigste Instrument zur Verringerung der Ungleichheit in der primären Einkommensverteilung. Das wird durch die
starke Korrelation zwischen Tarifbindung und geringer Einkommensungleichheit eindrucksvoll belegt. In Ländern mit geringer Tarifbindung wie in Großbritannien
arbeiten die meisten Beschäftigten nah am Mindestlohn. In Ländern mit hoher Tarifbindung wie in den skandinavischen Ländern und in Deutschland vor 1997 erhalten
die meisten Beschäftigten hingegen einen mittleren Stundenlohn deutlich über der Niedriglohngrenze.
Befürchtungen, dass man nur die Wahl zwischen Arbeitslosigkeit oder Ungleichheit habe, haben keine empirische Evidenz; im Gegenteil: Die OECD hat
festgestellt, dass Länder mit koordinierter Lohnpolitik, die nur über eine hohe Tarifbindung möglich ist, signifikant geringere Arbeitslosen- und höhere
Beschäftigungsquoten haben als Länder mit völlig dezentralisiertem Lohnsystem, in denen im Wesentlichen die Unternehmen die Löhne bestimmen.
Tarifverträge schützen. Wir haben daher ein starkes Interesse, das Tarifsystem zu stärken und die Tarifbindung der Beschäftigten wieder deutlich zu
erhöhen.
Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)
Mit der Vorlage eines Bundestariftreuegesetzes, mit der Regelung zur kollektiven Nachwirkung von Tarifverträgen im Unternehmensverbund und dem
digitalen Zugangsrecht der Gewerkschaften zu den Betrieben geht die Ampelkoalition wichtige Schritte zur Stärkung der Tarifbindung.
Wir haben in unserem Koalitionsvertrag darüber hinaus vereinbart, prüfen zu wollen, ob es weiterer Schritte bedarf.
Das korrespondiert mit der EU-Richtlinie zur Stärkung der Tarifbindung, die als Zielwert einen Tarifbindungsgrad von 80 Prozent der Beschäftigten
vorgibt und für die Staaten, in denen dies noch nicht erreicht ist, Aktionspläne fordert, in denen dargelegt wird, mit welchen Maßnahmen die Regierungen dieses
Ziel in den nächsten Jahren erreichen wollen. Ein solcher Aktionsplan soll bis zum November 2024 konkretisiert vorgelegt werden.
Dabei fällt auf: Eine hohe Tarifbindung weisen in Europa nur Länder auf, in denen die Tarifbindung durch Allgemeinverbindlichkeitserklärungen, AVEs,
oder andere Formen staatlicher Rahmensetzungen wie durch das Gent-System in Skandinavien oder eine obligatorische Kammermitgliedschaft wie in Österreich
gestützt wird.
Man könnte meinen, dass eine hohe Tarifbindung eng mit einem hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad zusammenhängt. Doch dem ist nicht so. Es gibt
Länder mit hohem gewerkschaftlichen Organisationsgrad und hoher Tarifbindung, wie zum Beispiel Belgien, und daneben Länder wie Frankreich mit einem sehr hohen
Grad an Tarifbindung und gleichzeitig sehr niedrigem gewerkschaftlichen Organisationsgrad.
Tatsächlich ist es die AVE-Praxis, die über den Grad der Tarifbindung entscheidet. Hier anzusetzen, ist richtig.
Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)
In der Diskussion ist dabei unter anderem die Umkehrung des Mehrheitsverhältnisses in den paritätisch mit Arbeitgeber- und Gewerkschaftsvertretern
besetzten Tarifausschüssen, die über AVE-Anträge entscheiden, sodass es, wenn beide Tarifparteien einer Branche gemeinsam die AVE ihres Tarifvertrages
beantragen, künftig immer dann einer Mehrheit im Tarifausschuss bedarf, wenn der Antrag abgelehnt werden soll. Heute hingegen bedarf es einer Mehrheit, wenn dem
Antrag zugestimmt werden soll, was faktisch eine Vetoposition für die Arbeitgeberverbände schafft.
Reicht das aber schon? Es gibt ja Branchen, wo der Arbeitgeberverband nicht bereit ist, die AVE für den von ihm selbst abgeschlossenen Tarifvertrag zu
beantragen – so seit Ende der 90er-Jahre zum Beispiel im Einzelhandel. Dort setzen die Arbeitgeber ganz darauf, den Wettbewerb untereinander auf dem Rücken der
Beschäftigten, nicht zuletzt über die Löhne, auszutragen, so wie es der Vorredner auch propagiert hat. Müssen wir mit Blick auf solche Branchen nicht ein
einseitiges Antragsrecht schaffen? Und zieht man dann in solchen Fällen einen neutralen Dritten mit Stichstimme hinzu, oder setzt man auf Losentscheid, was den
Einigungsdruck im Verhandlungssystem übrigens erwiesenermaßen deutlich erhöht? Oder sollten Branchentarifverträge, wie es zum Beispiel in Spanien der Fall ist,
automatisch für allgemeinverbindlich erklärt werden? Der Handlungsbedarf jedenfalls ist hoch. Darauf weist der Antrag der Linken völlig zu Recht hin.
Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
Um die Frage zu beantworten, wie wir dem gerecht werden, wird es noch so mancher Diskussion bedürfen. Jetzt aber beschließen wir in Kürze erst einmal
das Bundestariftreuegesetz. Dann gehen wir den nächsten Schritt mit dem klaren Ziel vor Augen, wieder deutlich mehr Beschäftigte unter den Schutz von
Tarifverträgen zu stellen.
Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Carl-Julius Cronenberg [FDP]
Die FDP hat nicht geklatscht! Da bin ich mal auf die Rede gespannt! Die haben nicht geklatscht!)
Das Wort hat der Abgeordnete Jürgen Pohl für die AfD-Fraktion.
Beifall bei der AfD)