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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 9. Mai haben wir den Europatag gefeiert. An diesem Tag im Jahr 1950 hat der
französische Außenminister Robert Schuman seine Ideen für eine neue Form des gemeinsamen Europas vorgestellt. Damit haben wir die Feierlichkeiten in Erinnerung
an die Geburtsstunde der Europäischen Union begangen.
Seitdem hat die Europäische Union viele Wandlungen vollzogen: von der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl im Jahr 1951 zur Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft 1957 bis hin zum Vertrag von Maastricht 1992 und durch zahlreiche Erweiterungen der Union seitdem. Gemeinsam können wir auf viele
Fortschritte und Errungenschaften dieser Zeit zurückblicken: 70-jähriger Frieden unter unseren Mitgliedstaaten; Jahrzehnte des freien Warenverkehrs und ein
Anteil von 15 Prozent am globalen Handel; eine Position als Global Player, ermöglicht durch eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die wir immer noch
erweitern können und müssen; fast 450 Millionen Bürgerinnen und Bürger, die von umfassenden Rechten profitieren, von Arbeits- und Reisefreizügigkeit über den
Schutz essenzieller Bürgerrechte bis hin zu alltäglichen Erleichterungen.
All diese Errungenschaften zeigen, dass wir als Europäische Union über die letzten Jahrzehnte zusammengewachsen sind. Wir haben uns von einer rein
wirtschaftlich orientierten Gemeinschaft zu einer gemeinsamen europäischen Identität mit gemeinsamen Wertevorstellungen und Prinzipien entwickelt. Und ich
glaube, darauf können und sollten wir stolz sein.
Beifall bei Abgeordneten der FDP und der SPD und der Abg. Chantal Kopf [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Ebendiesem Wandel muss auch unser gemeinsames europäisches Wahlrecht Rechnung tragen. Seit der ersten Wahl zum Europäischen Parlament im Jahr 1979
haben wir das europäische Wahlrecht immer wieder reformiert. Denn Wahlen und die Art und Weise, wie wir sie durchführen, bilden den Grundstein einer jeden
Demokratie, auch der europäischen, und spiegeln ihre Werte wider. Unser Europawahlrecht sollte dementsprechend auch den Zusammenhalt und die Weiterentwicklung
der Union widerspiegeln. Um diesem Schritt näher zu kommen, haben der Europäische Rat und das Europäische Parlament den Direktwahlakt 2018 verabschiedet.
Der Zeitpunkt hierfür birgt ein großes Potenzial für die Fortentwicklung und vertiefte Integration der Union. Sei es der für beide Seiten bedauerliche
Austritt des Vereinigten Königreichs oder der schreckliche russische Angriffskrieg gegen die freie Ukraine: Wann, wenn nicht jetzt, ist der Moment, den nächsten
Schritt beim Zusammenwachsen der europäischen Familie zu gehen?
Beifall der Abg. Carina Konrad [FDP], Christian Petry [SPD] und Chantal Kopf [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Wir sehen in dieser Reform des bisherigen Wahlrechts das Potenzial, die europäische Demokratie und die Legitimation der europäischen Institutionen
nachhaltig zu stärken. Denn ein Parlament kann nur dann Bürgerinnen und Bürgern dienen, wenn stabile Mehrheiten möglich sind, und eine Zersplitterung des
Europäischen Parlaments ist der Demokratie nicht förderlich. Statt einer Fragmentierung streben wir klare Mehrheitsverhältnisse an. Die bisherigen Versuche,
diese Stärkung des Europäischen Parlaments auf nationaler Ebene zu erreichen, sind in Deutschland an den verfassungsrechtlichen Anforderungen gescheitert. Die
Ratifizierung des Direktwahlakts 2018 durch Deutschland wird es uns ermöglichen, auch in Deutschland eine 2-Prozent-Hürde für die Europawahl einzuführen. Dabei
sehen wir als Liberale es als verfassungsrechtlich geboten an, die niedrigstmögliche Hürde für Deutschland anzuwenden. Eine Hürde über dem europarechtlich
vorgegebenen Mindestmaß sollte es unserer Meinung nach nicht geben.
Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Mit der Ratifizierung des Direktwahlakts 2018 schließt sich Deutschland der breiten Mehrheit von Mitgliedstaaten an, die diesen wichtigen Schritt
bereits gegangen sind. In diesem Zusammenhang möchte ich mich dem Appell an unsere Freunde in Spanien und Zypern anschließen, den Direktwahlakt 2018 zu
ratifizieren, sodass wir bald eine gemeinsame europäische Wahlrechtsreform vollziehen können.
Beifall bei Abgeordneten der FDP und der SPD)
Im Nachgang an den Direktwahlakt 2018 hat das Europäische Parlament einen weiteren, einen wichtigeren Schritt gemacht und eine deutlich umfassendere
Reform beschlossen, den Direktwahlakt 2022. Diesen Vorschlag haben wir als Ampel intensiv beraten und gemeinsame Richtlinien für die Verhandlungen der
Bundesregierung zu diesem Vorschlag ausgearbeitet.
Ich muss sagen: Aus liberaler Sicht ergeben sich beim jetzigen Vorschlag Punkte, denen wir so nicht zustimmen können. Auch das haben wir in unsere
heute zu verabschiedende Stellungnahme aufgenommen. Wir Liberale sehen eine zwingend paritätische Besetzung der Listen nicht als vereinbar mit unserer
Verfassung an. Mehr noch: Wir halten es nicht für sinnvoll, den Wählerwillen durch Quoten einzuschränken. Wir sehen uns als politisch Handelnde in der
Verantwortung, für diversere Listen zu sorgen, und nicht den Gesetzgeber.
Beifall bei der FDP
Zuruf der Abg. Leni Breymaier [SPD])
Um den Vorgaben aller Länder zu genügen, setzen wir uns für einen breiten Sperrklauselkorridor zwischen 2 und 5 Prozent ein. Dabei ist es unserer
Meinung nach essenziell, für Deutschland die niedrigstmögliche Hürde anzuwenden.
Was mir auch wichtig ist: Die im Vorschlag des Europäischen Parlaments vorgesehene Ausnahme von der Sperrklausel für Parteien, die in mehr als sieben
Ländern unter gleichem Namen und gleichem Logo antreten, wäre unserer Meinung nach eine Bevorzugung einzelner Parteien, die wir nicht als gerechtfertigt
ansehen. Mehr noch: Dies würde die Rolle der europäischen Parteienfamilien, die in den vergangenen 50 Jahren das Zusammenwachsen Europas massiv gefördert haben,
formell entwerten. Selbstverständlich müssen Minderheiten, egal ob sprachlich oder national, von der Sperrklausel ausgenommen bleiben. Dies muss jedoch die
einzige Ausnahme bleiben.
Gleichzeitig überwiegen für uns gegenüber der angebrachten Kritik – und das sage ich ganz deutlich – bei dieser Europawahlrechtsreform die Chancen.
Wir sehen hier ein enormes Potenzial für die Zukunft der Europäischen Union und der Wertegemeinschaft. Wir begrüßen ausdrücklich die Absenkung des Wahlalters
auf 16 Jahre; denn die Jugend in Europa hat ein Recht darauf und sie hat den Willen dazu, die eigene Zukunft politisch mitzugestalten.
Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Durch das Spitzenkandidatenprinzip und die transnationalen Listen stärken wir eine europäische Identität und Verwurzelung, die gerade bei den
Europawahlen in der Vergangenheit häufig abhandengekommen sind. Die transnationalen Listen, die bereits von meinen Kolleginnen und Kollegen vielfach erwähnt
wurden, und der unionsweite Wahlkreis sind hier ein entscheidender Schritt. Aber ich möchte auch auf das Zugehörigkeitsgefühl der Bürgerinnen und Bürger
eingehen, das dadurch entstehen kann, dass wir endlich einen einheitlichen Wahltag und keine Zersplitterung der Wahl über fast eine ganze Woche haben. Uns ist
es wichtig, dass alle Mitgliedstaaten unabhängig von ihrer Größe angemessen repräsentiert sind.
Ich freue mich, dass wir als Ampel eine ausgewogene Verhandlungsgrundlage für die Bundesregierung geschaffen haben, die sowohl den positiven Seiten
des Vorschlags als auch aufkommenden Bedenken Rechnung trägt. Damit stärken wir die Position Deutschlands in den Verhandlungen und setzen selbst den ersten
Schritt in Richtung Europa der Zukunft. Lassen Sie es mich hier ganz ausdrücklich sagen: Die Zeit des German Vote ist vorüber. Wir gehen hier nicht undefiniert
in die Verhandlungen, sondern mit einer klaren Positionierung Deutschlands. Das ist der große Unterschied der Europapolitik der Ampel zu der Politik, die wir
vorher gesehen haben.
Ich bin überzeugt, dass wir mit der Ratifizierung des Direktwahlakts 2018 und mit der Stellungnahme zum umfassenden Reformvorschlag hinsichtlich des
Direktwahlakts 2022 ein nachhaltiges und modernes Europa unterstützen. Deswegen bitte ich ausdrücklich auch die Kolleginnen und Kollegen der Union, über ihren
eigenen Schatten zu springen und auch vor dem Hintergrund möglichen Unfriedens in Bezug auf die nationale Wahlrechtsreform unsere gemeinsame Sache, eine
vertiefte Integration der Europäischen Union und eine Fortentwicklung der europäischen Demokratie, zu unterstützen. Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung und bedanke
mich recht herzlich.
Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Jetzt erhält Alexander Ulrich für Die Linke das Wort.
Beifall bei der LINKEN)