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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In etwas mehr als einem Jahr sind wieder Europawahlen. Wir alle hoffen auf eine
höhere Wahlbeteiligung als beim letzten Mal. Eine Wahlbeteiligung von im Schnitt 50 Prozent kann uns nicht zufriedenstellen. Doch wie können wir die
Europawahlen attraktiver machen und damit auch die EU einer breiteren Öffentlichkeit näherbringen? Schließlich beeinflusst sie unser aller Leben jeden Tag. Und
wie kann die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments gestärkt werden? Hierzu stehen zwei Reformvorschläge für das europäische Wahlrecht im Raum, über die
wir heute noch einmal sprechen, zum einen der Ratsbeschluss von 2018 zur Änderung des EU-Direktwahlakts, für den die Ampel nun ein entsprechendes
Ratifizierungsgesetz vorgelegt hat, und zum anderen der Verordnungsvorschlag von 2022 bzw. die Stellungnahme der Ampel dazu. Lassen Sie mich kurz zwischen
diesen beiden Vorschlägen differenzieren.
Zunächst zum Beschluss aus dem Jahr 2018. Damals einigten sich Rat und EP auf eine Änderung des Direktwahlakts von ursprünglich 1976. Zentrale
Neuerung ist hier im Vergleich zur letzten Anpassung 2002 die Einführung einer Sperrklausel zwischen 2 und 5 Prozent für größere Mitgliedstaaten und damit auch
für Deutschland. Die Vorteile sowie auch die dringende Notwendigkeit dieser Sperrklausel habe ich in meiner letzten Rede zu diesem Thema schon dargelegt.
Deswegen nur in aller Kürze: Die Sperrklausel fördert die Funktionsfähigkeit und beugt einer Zersplitterung des Europäischen Parlaments vor.
Beifall bei der CDU/CSU)
Diesen Vorschlag wollen wir deswegen heute verabschieden; und das begrüße ich ausdrücklich.
Weiterhin beschäftigen wir uns mit einem Vorschlag aus dem Mai 2022 und der entsprechenden Stellungnahme der Ampel dazu. Enthalten sind zum Beispiel
die Einführung von transnationalen Listen, bei denen auch Vertreterinnen und Vertreter anderer Mitgliedstaaten im eigenen Land gewählt werden können, aktives
Wahlrecht ab 16 Jahren und die paritätische Besetzung der Listen. Mir ist es wichtig, hier zu differenzieren.
Die Einführung paritätischer Listen, wie sie im Vorschlag ganz konkret benannt wird, ist aus meiner Sicht kritisch zu beleuchten. Warum? In den
letzten Jahren wurden bereits entsprechende Paritätsgesetze auf Landesebene, zum Beispiel in Thüringen und Brandenburg, von den dortigen Verfassungsgerichten
für nichtig erklärt. Thüringen scheiterte mit dem Gang nach Karlsruhe; Brandenburg hat es gar nicht erst versucht. Laut der Urteile der Gerichte verstießen
diese Gesetze gegen die Grundsätze der Freiheit und Gleichheit von Wahlen und Parteien. So dürfen Parteien frei über die Zusammensetzung ihrer Wahllisten
entscheiden. Auch die passive Wahlrechtsgleichheit ist beeinträchtigt, da Kandidaten der Zugang zu bestimmten Listenplätzen verwehrt bleiben kann.
Zur Klarstellung in der Sache: Wir müssen – und es ist unser aller Aufgabe, daran mitzuarbeiten – den Anteil von Frauen in politischen Ämtern, der
immer noch viel zu niedrig ist, erhöhen, und zwar egal, ob im Europäischen Parlament, im Deutschen Bundestag oder auf anderen Ebenen.
Beifall bei der CDU/CSU)
Eine verfassungsrechtlich angreifbare paritätische Listenaufstellung halte ich aber nicht für das geeignete Mittel.
Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)
Ein schlecht gemachtes Gesetz torpediert alle ernstgemeinten und guten Bemühungen. Stattdessen braucht es Maßnahmen, die verfassungsrechtlich tragbar
sind. Lassen Sie uns darüber doch mal diskutieren. Denkbar wäre zum Beispiel eine Verankerung von Mutterschutz sowie Elternzeit für Frauen und Männer im
Abgeordnetengesetz. Eine Verpflichtung von Parteien, sich intensiver mit Gleichstellungsfragen zu beschäftigten, oder Anreize für Parteien, Maßnahmen für
parteiinterne Parität zu ergreifen, wären möglich. So hat es übrigens auch die Wahlrechtskommission des Bundestages in ihrem Abschlussbericht vorgeschlagen.
Für die Umsetzung des Verordnungsentwurfs von 2022 würde es darüber hinaus übrigens auch noch einer Einigung im Rat bedürfen. Eine solche liegt
aktuell meiner Einschätzung nach in weiter Ferne. Dafür sind noch zu viele Punkte strittig. Aber auch beim Thema „transnationale Listen und
Spitzenkandidatenprinzip“ gibt es zumindest noch einige offene Fragen.
Es ist daher von essenzieller Bedeutung, dass wir den bereits ausgehandelten Direktwahlakt von 2018 zügig ratifizieren, damit die darin enthaltene
Prozenthürde – sehr geehrte Frau Kopf, da muss ich Ihnen widersprechen – zu den Europawahlen im kommenden Jahr greift. Warum sage ich das? Für die
Feinschmecker, die sich auf die Venedig-Kommission berufen werden: Auch die Abschaffung der Sperrklausel für die Europawahlen 2014 erfolgte erst wenige Monate
vor den Wahlen. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat diese Einschätzung ebenfalls bestätigt und hält die Einführung einer Sperrklausel weniger als
ein Jahr vor den Wahlen für unproblematisch und bezieht sich dabei auf ein Urteil des Hamburgischen Verfassungsgerichts. Ich glaube also, das wäre möglich.
Vorgestern haben wir den Geburtstag des Grundgesetzes gefeiert. Ein Blick ins Gesetz zeigt: Das Wort „Europa“ kommt darin in verschiedenen
Ausprägungen 33-mal vor. Europa ist wichtig, nicht nur dem Grundgesetz. Die Europäische Union ist Teil unseres Lebens. Deswegen sollte sie präsent sein. Das ist
nicht selbstverständlich. Aber deswegen ist es auch wichtig, wie dort gewählt wird. Lassen Sie uns also den Beschluss, auf den wir uns 2018 mit unseren
europäischen Partnern geeinigt haben, endlich umsetzen und so den Weg zu einem funktionsfähigeren EU-Parlament ebnen. Unsere Partner in Europa müssen sich auf
uns verlassen können.
Beifall bei der CDU/CSU
Zuruf von der LINKEN: So ein Quatsch!)
Für die SPD-Fraktion erhält das Wort Jörg Nürnberger.
Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)