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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Holocaustüberlebende Primo Levi hat gesprochen von der „Pflicht, Zeugnis abzulegen“ für das
Geschehene. Auf andere Weise Zeugnis abgelegt, nämlich für Gott, haben in den NS-Konzentrationslagern, den Orten der wohl extremsten Gottesferne, die Zeugen
Jehovas. Jeder Zweite der „Ernsten Bibelforscher“, wie sie sich damals noch nannten, wurde im Dritten Reich inhaftiert, jeder Vierte wurde ermordet. Damit waren
die Zeugen Jehovas nach den Juden die wohl am intensivsten verfolgte Gruppe.
Die Gründe dafür sind aufschlussreich. Schon 1923 schrieb NS-Ideologe Alfred Rosenberg, die Ernsten Bibelforscher bereiteten – Zitat – „seelisch die
‚,religiös‘-politische jüdische Weltherrschaft vor“. 1935 wurden sie im Titel einer Nazistreitschrift als – Zitat – „Pioniere für ein jüdisches Weltreich“
bezeichnet. Ihre starke Bezugnahme auf das Alte Testament und auf den Eigennamen des Gottes Israel, den Sie mit „Jehova“ übersetzten, erweckte den Argwohn und
Hass der Nationalsozialisten. Ihre konsequente Verweigerung des Kriegsdienstes, auch des Treueeides auf Adolf Hitler sowie des Hitlergrußes trug maßgeblich zu
ihrer Verfolgung bei.
Vor Kurzem habe ich die Holocaustgedenkstätte Yad Vashem in Israel besucht. Dort stand mir klar vor Augen, dass die NS-Verbrechen an den Juden über
die moralische und rechtliche Dimension des Genozids hinaus eine gewissermaßen metaphysische Dimension besitzen – dadurch, dass sie sich gegen das Volk Gottes
richteten, gegen das Volk, das nach eigener Überlieferung berufen ist, das Gesetz und die Gebote Gottes in der Welt sichtbar werden zu lassen, von ihnen Zeugnis
abzulegen. Dies ausradieren zu wollen, ist nicht nur ein Verbrechen und unmenschlich; hier scheint der theologische Begriff des Satanischen angemessen.
Konsequenterweise haben die Zeugen Jehovas, die auf ihre Weise den biblischen Anspruch teilten, im NS-Staat eine Ausgeburt des Bösen im religiösen Sinn und in
Hitler den Antichrist oder Teufel auf Erden gesehen.
Wie auch immer man das Bibelverständnis der Zeugen Jehovas aus theologischer Sicht kritisieren kann: Aus den Konzentrationslagern sind die
berührendsten Geschichten von Mithäftlingen überliefert, denen sie geholfen haben, und die Treue zu ihrem Glauben im Angesicht des Todes war von einer
Konsequenz und Furchtlosigkeit, denen man nur den tiefsten Respekt zollen kann.
Ob ein Mahnmal für die ermordeten Zeugen Jehovas in Berlin errichtet werden soll, wie ein breites Fraktionsbündnis hier fordert – wir wurden ja nicht
gefragt –, das kann nicht außerhalb des Kontextes einer oft missbräuchlichen Erinnerungspolitik entschieden werden, wie ich sie mehrfach an dieser Stelle
kritisiert habe. – Ich habe heute nur drei Minuten; wir sprechen im Ausschuss ja weiter.
Sicher ist, dass diese Verbrechen nicht vergessen werden dürfen und uns Mahnung sein müssen, wohin es führen kann, wenn der Staat totalitär wird, wenn
er nach dem ganzen Menschen greift, ins Persönliche hineinregiert, das Gewissen nicht mehr achtet und ganze Gruppen zu Feinden erklärt.
Beifall bei der AfD)
Thomas Hacker spricht jetzt für die FDP-Fraktion.
Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)