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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der evangelische Stuttgarter Stadtpfarrer Rudolf Daur erinnerte sich in einem Brief an Emma Stange
im Februar 1942 – ich zitiere –: Er lehnt aus Gewissensgründen den Kriegsdienst radikal ab, lehnte insbesondere ab, einen Eid auf Adolf Hitler zu leisten. Ich
versuchte, ihm alles zu sagen, was ihm etwa eine andere Stellungnahme ermöglichen könnte. Es lag mir so viel daran, das Leben dieses tüchtigen Menschen zu
retten. Aber er war seiner Meinung völlig gewiss.
Dieser „tüchtige Mensch“, von dem in Daurs Brief die Rede ist, war ihr Mann, Gustav Stange, ein Schuhmacher aus Stammheim, den er Anfang 1942 mehrfach
in der Haft besuchte. Gustav Stange wollte keinen Eid auf Adolf Hitler leisten. Er gehörte zu den Zeugen Jehovas, wurde wegen „Zersetzung der Wehrkraft“ zum
Tode verurteilt und am 20. Februar 1942 auf der Schießbahn Dornhalde erschossen.
Gustav Stange war kein Einzelfall. Neben ihm wurden im Nationalsozialismus Zigtausende Zeugen Jehovas unerbittlich bekämpft, verfolgt und ermordet.
Dennoch zählen sie zu jenen Opfern der NS-Diktatur, deren Schicksal und Leid weitgehend unbekannt ist und in der öffentlichen Erinnerung bis heute fehlt. So
erschien die erste wissenschaftliche Monografie zur Verfolgung der Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus erst 1993, fast 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten
Weltkriegs. In Gesamtdarstellungen über Widerstand und Verweigerung und selbst in gesonderten Abhandlungen über den von Christen geleisteten Widerstand bleiben
die Zeugen Jehovas fast immer unberücksichtigt.
Lange galten sie als gesellschaftliche Außenseiter – eine kleine christliche, chiliastisch ausgerichtete, nichttrinitarische Religionsgemeinschaft, im
Innern hierarchisch-theokratisch organisiert, nach außen einheitlich geschlossen und mit kritischer Haltung zu staatlichen Strukturen –, schien es kein
ausreichendes öffentliches Interesse an ihrem Verfolgungsschicksal zu geben – so wie lange Zeit auch bei Sinti und Roma, Homosexuellen, Menschen mit Behinderung
und anderen.
Blickt man etwas genauer auf die Leidensgeschichte dieser verhältnismäßig kleinen Glaubensgemeinschaft zwischen 1933 und 1945, so erkennt man eine
ganze Reihe historisch bemerkenswerter Besonderheiten: Bereits wenige Monate nach der Machtergreifung wurde die Internationale Bibelforscher-Vereinigung als
erste Glaubensgemeinschaft im Nationalsozialismus verboten. Diejenigen, die sich dennoch zu ihr bekannten und sich dem Verbot nicht beugten, gerieten
zwangsläufig in Opposition zum Regime und in Gefahr.
Die Gründe für das Verbot waren vielfältig und verschwörungstheoretisch motiviert. Bereits in den 1920er-Jahren gab es massive völkisch-nationale
Anfeindungen, die die Zeugen Jehovas – wie es auch Alfred Rosenberg, der Chefredakteur der Parteizeitung der NSDAP, propagierte – als Instrument des
„Weltjudentums“ darstellten.
Dem nationalsozialistischen Anpassungsdruck gegenüber stand ihre unvergleichbare Geschlossenheit und Unbeugsamkeit. Ihren Anhängern waren
Mitgliedschaft und Mitarbeit in politischen Organisationen und Parteien untersagt. Sie enthielten sich des aktiven und des passiven Wahlrechts, und sie
verweigerten – was am schwersten wog – konsequent den Militärdienst, ungeachtet der damit drohenden Todesstrafe.
Eine Gemeinschaft, die trotz aller Repressionen und Verfolgung unerschütterlich an ihrem Glaubensgrundsatz der strikten politischen Abstinenz
festhält, die den „deutschen Gruß“, die Mitgliedschaft in NS-Zwangskörperschaften oder den Kriegsdienst ablehnt, konnte ein nach Loyalitätsgesten und ‑pflichten
gieriges System wie den Nationalsozialismus einfach nicht dulden.
Die Leidensgeschichte der Zeugen Jehovas war mit dem Untergang der NS-Diktatur noch nicht zu Ende. Bereits 1950 wurde die Gemeinschaft der Zeugen
Jehovas in der DDR erneut verboten und wurden ihre Mitglieder abermals zu Verfolgten – jetzt in der SED-Diktatur.
Totalitäre Regime und Diktaturen begnügen sich nicht mit der politischen Herrschaft über Staat und Gesellschaft, sie wollen den ganzen Menschen für
sich vereinnahmen. Diese Erfahrung und Erkenntnis leiteten die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes, als sie auch unter Verweis auf die Zeugen Jehovas das
Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus religiösen und Gewissensgründen im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankerten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ganz gleich, wie man die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas, ihre Glaubenslehre und ihre missionarische
Tätigkeit persönlich beurteilen mag: Es ist seit Langem an der Zeit, dass wir an ihr Schicksal während der NS-Zeit aufrichtig erinnern, ihren Widerstand und
ihre Hilfsbereitschaft auch anderen Verfolgten, insbesondere auch Jüdinnen und Juden, gegenüber angemessen würdigen und ihrer Verfolgung und Ermordung mit einem
Denkmal an historischem Ort auch öffentlich gedenken.
Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN)
Das ist Ausdruck des unteilbaren Respekts, der allen Opfern des Nationalsozialismus, ihren Angehörigen und Nachkommen in unserem kollektiven
Gedächtnis gebührt. Deshalb bringen wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion diesen Antrag mit den Ampelfraktionen heute ein.
Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Marianne Schieder ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion.
Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)