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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 3. August letzten Jahres gab es eine besondere Zusammenkunft in der Paulskirche in Frankfurt;
ich erinnere mich gut daran. „Der 3. August 2022 ist ein historischer Tag“, hat die damalige Vorsitzende des Zentralrats der Jesiden bei der Gedenkveranstaltung
gesagt. In der Paulskirche, in dieser so historischen Stätte, waren erstmals die Oberhäupter von 17 der 24 jesidischen Stämme zusammengekommen. Nach dem
Genozid, der am 3. August 2014 begonnen hatte, wollten sie nicht nur zurück, sondern auch nach vorne schauen. Die Paulskirche wurde von Vertretern eines Volkes
ausgewählt, das zuvor aller seiner Rechte, seiner fundamentalen Menschenrechte beraubt worden war – allen voran die Frauen.
Es war die Nationalversammlung in dieser Paulskirche, die fast 175 Jahre vorher für die Deutschen den Schritt heraus aus der Unterdrückung der
Menschenrechte, der Grundrechte, der bürgerlichen Freiheiten getan hatte. Der Kampf für die bürgerlichen Freiheiten war nicht einfach – er war vielfach
gefährlich. „Die Gedanken sind frei“, dieses berühmte traditionelle Lied war immer auch Ausdruck der Tatsache, dass es eben keine Meinungsfreiheit gab, keine
Versammlungsfreiheit und dass den Menschen viele andere Grundfreiheiten verwehrt wurden.
Welch starke Wirkung diese Verfassung entfaltet hat, lässt sich auch daran ablesen, dass über die Weimarer Verfassung bis hin zu unserem Grundgesetz
zentrale Elemente übernommen wurden. Diese parlamentarische Revolution für Freiheit, Demokratie und Grundrechte war das Ergebnis mutiger, aufrechter
demokratischer Grundhaltung. Im Kern geht es um die Würde des Menschen, um die Rechte der Menschen. Aus der Universalität der Menschenrechte leiten sich die
anderen Rechte ab: eine Haltung von zunächst wenigen, die aber entschlossen waren, für die Mehrheit diese Rechte zu erkämpfen – und die diese Rechte erfolgreich
erkämpft haben.
Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, stehen in der demokratischen Tradition dieser Nationalversammlung.
Unser Nationalstaat ist heute eingebunden in ein freies Europa, in den freien Westen. Auch für diese Ausbreitung von Freiheit haben viele mutige
Menschen gekämpft, im 19., im 20. und in unserem Jahrhundert.
Anders als zum Zeitpunkt der Nationalversammlung sind wir heute Teil einer globalen Gemeinschaft von Ländern, die ebenfalls auf Freiheit, Demokratie
und Grundrechten gründen. Die Nationalversammlung schuf die Verfassung eines noch nicht vollständig geschaffenen deutschen Nationalstaates. An die globale
Vernetzung in der heutigen Ära – weder mit den USA, schon gar nicht mit China – war damals überhaupt nicht zu denken. Woran auch nicht zu denken war: Zwischen
der Nationalversammlung und dem Deutschen Bundestag lagen unerträglich viel Unterdrückung von Freiheit, brutale Verfolgung von Andersdenkenden, Minderheiten und
dazu vernichtende Kriege, darunter der schlimmste, von deutschem Boden ausgehend.
Das alles macht nur deutlicher: Demokratie, Freiheit und Menschenrechte kann man erkämpfen, und man muss sie gegen Bedrohungen von innen und außen
aktiv verteidigen.
Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Heute gilt in anderer Form, was für die Mitglieder der Nationalversammlung in der Paulskirche galt: Wir brauchen die Bereitschaft, für Freiheit und
Demokratie zu kämpfen. Wir dürfen uns nicht wegducken, sonst werden Freiheit und Demokratie auf Dauer nicht überleben. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat
uns die Geschichte gelehrt.
Heute geht eine Bedrohung von Freiheit und Grundrechten von einer globalen Allianz der Diktaturen aus, die zu maximaler Repression nach innen und zu
Aggression nach außen bereit ist. So wie die totalitäre Bedrohung, der verbrecherische Nationalsozialismus, von Demokratien besiegt wurde, so sind wir heute
dazu verpflichtet, Bedrohungen von Menschenrechten und Demokratie und umso mehr Bedrohungen des Friedens abzuwenden und an der Seite derjenigen zu stehen, die
für diese Werte einstehen. Das gilt heute ganz besonders für ein Land: die Ukraine. Das ist das Vermächtnis der Paulskirche.
Um dieses Vermächtnis zu bekräftigen, möchte ich abschließend einen Vorschlag machen: Am 28. März 1849 setzten die Abgeordneten in Frankfurt am Main
ihre Unterschrift unter eine bis heute nachwirkende Verfassung, die Paulskirchenverfassung. Es wäre eine wunderbare Geste dieses Deutschen Bundestages an die
Nationalversammlung von 1848, wenn der Deutsche Bundestag im nächsten Jahr, am 28. März 2024, zum 175. Jahrestag der Paulskirchenverfassung, dazu eine
offizielle Sondersitzung in der Paulskirche in Frankfurt abhalten würde.
Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
Es wäre ein symbolisches Zeichen für die parlamentarische Demokratie, die Freiheit und für die Menschenrechte.
Beifall bei der CDU/CSU
Da müssen Sie die erst mal renovieren, die Paulskirche!)
Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Helge Lindh.
Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)