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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher auf den Tribünen! Eine „Versammlung ..., wie sie
Deutschland noch nie gesehen“ – Alterspräsident Friedrich Lang fand in seiner Ansprache zur Eröffnung der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche am
18. Mai 1848 die richtigen Worte für diesen großen historischen Moment. Rund 800 Abgeordnete hatten sich vor 175 Jahren zum ersten frei gewählten
gesamtdeutschen Parlament versammelt. Die Verfassung, die dann am Ende der Beratungen der Nationalversammlung stand, war ein Dokument des Fortschritts. Sie sah
ein starkes Parlament vor und enthielt umfassende Grundrechte wie die Pressefreiheit, die Meinungsfreiheit und die Versammlungsfreiheit. Sie verfügte eine
unabhängige Gerichtsbarkeit und die Gleichheit aller Deutschen vor dem Gesetz. Die Paulskirche sollte einen künftigen Nationalstaat begründen mit einem Kaiser
als Staatsoberhaupt. Sehr geehrte Damen und Herren, wie wir wissen, kam es seinerzeit anders. Geschichte kann man nachträglich nicht ändern. Aber unsere
Geschichte hätte wohl eine bessere sein können, wenn die Saat von Freiheit und Parlamentarismus seinerzeit unmittelbar aufgegangen wäre – ein schöner
Gedanke.
Mit der heutigen Debatte erinnern wir an eine helle Seite der deutschen Geschichte. Im allgemeinen Bewusstsein in Deutschland haben
Nationalversammlung und Paulskirchenverfassung paradoxerweise lange Zeit ein Schattendasein gefristet. Vielleicht ist es deshalb auch kein Zufall, dass das
bekannteste Zitat zur Paulskirche von einem Amerikaner stammt. Der amerikanische Präsident John F. Kennedy hat die Nationalversammlung die „Wiege der deutschen
Demokratie“ genannt. Im Deutschen Bundestag hat 1973 die Präsidentin Annemarie Renger vor Eintritt in die Tagesordnung nur ganz kurz auf den Jahrestag
hingewiesen. 1998 fand zum 150. Jubiläum dann immerhin wie heute eine Vereinbarte Debatte statt.
Inzwischen erinnert der Deutsche Bundestag kontinuierlich und vielfältig an die Frankfurter Nationalversammlung. Gleich nebenan gibt es die
Ausstellung „Odyssee einer Urkunde“; eine sehr schöne Publikation des Bundestages erzählt die Irrfahrten dieser Urkunde. Die Parlamentshistorische
Dauerausstellung im Deutschen Dom zeigt die historische Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie herzlich
ermuntern, diese Ausstellung in das Programm Ihrer Besuchergruppen aufzunehmen. Wir als Parlament, als demokratische Volksvertretung, unterstreichen damit
nämlich unsere geistigen Wurzeln und unsere Traditionslinien.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, 2021 wurde von Kulturstaatsministerin Monika Grütters, dem Land Hessen und der Stadt Frankfurt am Main eine
unabhängige Expertenkommission zur Paulskirche berufen. Die Kommission unter Vorsitz des langjährigen Vorsitzenden meiner Fraktion, Volker Kauder, hat im April
dieses Jahres ein Haus der Demokratie neben der Paulskirche vorgeschlagen, eine Erinnerungs- und Lernstätte für die Geschichte unserer Demokratie – ein sehr
guter Vorschlag, wie ich meine. Mein Wunsch ist, dass dieses Haus gemeinsam mit den anderen Orten der Demokratiegeschichte in der Fläche wirkt. Es muss
Möglichkeiten geben, mit den Inhalten zu den Menschen zu kommen. Die Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte – vor bald zwei Jahren gegründet – hat
hingegen leider einen Stotterstart hingelegt. Zum Arbeiten ist sie bis heute noch immer nicht gekommen. Das muss sich dringend und schnellstens ändern.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, keine Idee ist so gut, dass sie nicht noch besser werden kann. Frauen blieben von den Beratungen in der
Paulskirche ausgeschlossen, obwohl auch sie seinerzeit ihre Stimme erhoben und auf die Barrikaden gegangen sind und mitgekämpft hatten. Das ist eine große
blinde Stelle der Frankfurter Reichsverfassung. Auch das gilt es heute festzuhalten.
Was lehrt uns nun die Paulskirche? Heute und dauerhaft haben wir die Verpflichtung, alles, aber auch wirklich alles für den Erhalt von Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit zu tun. Innere und äußere Bedrohungen gibt es leider sehr viele. Ich nenne hier nur zwei: die fortwährenden Angriffe auf Politikerinnen und
Politiker, online und im realen Leben, und damit eng verbunden die Geißeln des Rechtsextremismus und Rassismus in unserem Land.
Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Sehr geehrte Damen und Herren, die Demokratie ist kein Geschenk; sie muss mühsam erkämpft werden. Sie hat leider allzeit Feinde. Im Gedenken an die
erste deutsche Nationalversammlung appelliere ich an die demokratische Zivilgesellschaft, die Bürgerinnen und Bürger, gegen Verfassungsfeinde wo immer möglich
aufzustehen und mutig Widerstand zu leisten. Ich danke all denen, die dabei bereits täglich mittun. Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Demokratie und unser
Parlamentarismus brauchen Menschen, die mitmachen, sei es in Parteien, sei es in Bürgerinitiativen, sei es in Vereinen, sei es in Städten, sei es in Gemeinden,
auf Länder- wie Bundesebene und in Europa. Wir Abgeordnete sind aufgefordert, ansprechbar zu sein und anzusprechen, zu erklären und offen zu sein für
Argumente.
Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Meinungsstreit innerhalb des Verfassungsbogens ist lebendige Demokratie.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, sprechen wir Bürgerinnen und Bürger, sprechen wir vor allem junge Menschen an, dass politisches Engagement Freude
macht und unsere Demokratie am Leben hält.
Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN)
Nächste Rednerin für die Bundesregierung ist die Staatsministerin Claudia Roth.
Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)