Man könnte sich jetzt auch die Frage stellen, warum man sich damals überhaupt für dieses differenzierte System entschieden hat. Man wollte auf unterschiedliche Traditionen der Mitgliedstaaten eingehen und die Akzeptanz der Menschen auch für die EU erhöhen, gemäß dem Motto der Europäischen Union: In Vielfalt geeint. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute sprechen wir noch mal über Wahlen. Diesmal geht es aber um ein neues Wahlrecht für die Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments. Verzeihen Sie mir die Offenheit, aber nach unseren Erfahrungen bei der Änderung des Wahlrechts für den Deutschen Bundestag, insbesondere dem Umgang der Ampelkoalition mit den Rechten von Oppositionsparteien, bin ich etwas skeptisch, wenn die Koalition an dieser Stelle einen Vorschlag einbringt. Es ist doch zumindest nachvollziehbar, dass man sich fragt, warum es dieses Mal anders sein sollte. Aber auch aus der Sicht der Bürgerinnen und Bürger ist es wichtig, sich noch mal kritisch mit dem Vorschlag auseinanderzusetzen. Es geht hier um nichts Geringeres als um unsere Demokratie, die nur funktioniert, wenn ihr Menschen auch vertrauen. Gerade mit Blick auf die Europäische Union, die sich für viele Menschen einfach auch oft weit weg anfühlt und die gerade auch durch nicht nachvollziehbare oder nicht transparente Entscheidungen verunsichern kann, müssen wir einfach genau darauf achten, dass wir auch ein subjektiv fühlbar gutes Wahlrecht beschließen. Da sehe ich meine und unsere Verantwortung als Europäer und auch als Bundestagsabgeordnete. Die Kollegin Kopf hat gerade gesagt: Zwei Drittel wünschen sich eine aktive deutsche Rolle in der Europapolitik. – Das wünschen wir uns auch. Nicht zuletzt zeigt aber der Brandbrief des deutschen Vertreters bei der Europäischen Union, Michael Clauß, in dem er die fehlende einheitliche Linie der Bundesregierung beklagt und das chaotische Verhalten der Bundesregierung beim Verbrenner-Aus: Europa steht eben doch irgendwie nicht so ganz weit oben auf der Prioritätenliste. Ein weiteres Beispiel aus der Praxis: Statt auf europäischer Ebene den Austausch im Bereich Digitalisierung zu suchen, schlägt Herr Wissing mit einer Idee des Innovations-Clubs den baltischen Staaten eine parallele Runde vor. Europa kann doch nicht nebenherlaufen. Das kann nicht Sinn und Zweck der Europapolitik sein. Trotzdem möchte ich in der Sache klarstellen: Die Reform ist überfällig. Ein Wahlrecht, das je nach Mitgliedstaat unterschiedlich ist, eine Wahl, die an verschiedenen Tagen, in verschiedenen Zeiträumen stattfindet, das verwirrt Menschen unnötig. Aus meiner Sicht sind wir hier schon einen Schritt weiter. Wir sollten die Vorschläge daher auch ernsthaft inhaltlich diskutieren, das Für und Wider von transnationalen Listen als zentrales Element beispielsweise. Wem hilft eine Einführung der Zweitstimme? Wie wird dieses neue System von Menschen angenommen? Welche Elemente brauchen wir, um Vertrauen zu schaffen? Wie verhindern wir Überforderungen? Wie können wir auch sicherstellen, dass kleine Mitgliedstaaten angemessen beachtet werden? Welche Rolle kann der Spitzenkandidat, die Spitzenkandidatin wirklich übernehmen? Wie schaffen wir ein Gleichgewicht in den Interessen? Genauso zum Thema Sperrklausel. Wozu eigentlich die Sperrklausel? Nach den Europawahlen 2019, vor dem Brexit, saßen Abgeordnete aus 181 nationalen Parteien im Europäischen Parlament. Das führt zu einer Zersplitterung, erschwert die Entscheidungsfindung und beeinträchtigt so die Funktionsfähigkeit des Parlaments. Es führt auch dazu – das ist ein Grund –, dass viele Menschen nicht zur Wahl gehen. Die Wahlbeteiligung lag 2019 EU-weit bei um die 50 Prozent. In der Slowakei gingen ungefähr 23 Prozent an die Urnen. Da müssen wir besser werden. Eine Sperrklausel wirkt auch einer zunehmenden Fragmentierung entgegen und fördert das Vertrauen. Deswegen ist es schade, dass die Sperrklausel hier verwässert wird. Die europäischen Partner im Parlament hatten sich ja eigentlich auf eine Sperrklausel von 3,5 Prozent geeinigt. Da sollte man vielleicht noch einmal nachschärfen. Erlauben Sie mir zum Ende zum Antrag der AfD nur eine kurze Bemerkung. Sie beschweren sich hier lediglich über eine angeblich verspätet mitgeteilte Vorlage. Inhaltliche Anmerkungen oder Kritik am Vorschlag suche ich in Ihrer fünfseitigen Stellungnahme vergebens. Gerade angesichts multipler Krisen und Herausforderungen, vor denen wir jetzt hier in Deutschland und in Europa stehen, ist das Vertrauen in demokratische Prozesse zentral und unser gemeinsamer Auftrag. Bitte verspielen Sie das nicht! Herzlichen Dank.