Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was muss das damals mit den Menschen gemacht haben? Auf den Besitz von Nahrung stand die Todesstrafe. Eltern mussten entscheiden, welches Kind verhungert und welches das letzte Stück Brot erhält. Holodomor bedeutet, das ukrainische Volk wurde systematisch ausgehungert. Ein Menschheitsverbrechen, welches zu seiner Zeit die Weltöffentlichkeit nicht wahrnehmen wollte oder konnte. Danach wurde die Wahrheit durch die Sowjetunion und durch Russland unterdrückt. Mit jeder Verleugnung oder Relativierung ihres Schicksals sind die Opfer ein weiteres Mal gestorben. Das müssen wir verhindern. Wir müssen uns ihrer erinnern. Wir müssen uns aber auch ins Gedächtnis rufen, was wirklich geschah. Der Hungertod von Millionen von Menschen wird als Folge der Kollektivierung der Landwirtschaft dargestellt, auch hier im Plenum. Aber das ist verkürzt, fahrlässig und auch böswillig. Die geschichtliche Wahrheit ist: Ziel war die Auslöschung des ukrainischen Volkes. Eine bewusste ukrainische Nation und Identität sollte im wirklichen Wortsinn ausgehungert und in ihrer Existenz vernichtet werden. Der jetzige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine steht in dieser historischen Tradition. Es gibt einen Faden – einen blutroten –, der die Ereignisse des Holodomor mit dem Angriff auf die Ukraine verbindet. Wer also heute davon spricht, an der Seite der Ukraine zu stehen, der muss ihr auch durch die Anerkennung der historischen Wahrheit zur Seite stehen. Nicht auch noch die Geschichte darf als Waffe gegen die Ukraine benutzt werden. Was geschehen ist, hat der Vater des Völkerstrafrechts, Raphael Lemkin, als Muster für einen „sowjetischen Genozid“ bezeichnet – und wir haben das heute auch zu tun. Wir müssen sagen, was war: Es war ein Völkermord. Dieser Völkermord relativiert nicht die Singularität des Holocausts und unsere Schuld. Wir haben aber eine besondere historische Verantwortung für die Ukraine: Zehn Jahre nach den Ereignissen des Holodomor erfolgte der koloniale Vernichtungskrieg Nazideutschlands auf dem Gebiet der Ukraine. Deswegen haben wir eine besondere Pflicht, heute die Ukraine zu unterstützen – so gut, wie wir nur können. Unsere Debatte wird von den Menschen in der Ukraine intensiv verfolgt. Aus dem Gedenken an das Geschehene und der Würdigung der Opfer erwächst für viele Menschen in der Ukraine die Kraft, den Kampf um die Freiheit weiterzuführen, und unsere Pflicht, sie darin mit vollstem Herzen zu unterstützen.