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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Botschafter! Sehr geehrter Herr stellvertretender Außenminister! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es gibt Debatten, bei denen Parteipolitik und Abgrenzung voneinander schlichtweg unangemessen sind. Und es gibt Anträge, die erst dann Gewicht entfalten, wenn
eine breite Mehrheit des politischen Spektrums dahintersteht. Ich bin deshalb froh, dass wir zum Holodomor heute gemeinsam agieren. Danke dafür, vielen
herzlichen Dank!
Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Danke schön auch gerade deswegen, weil wir aus Deutschlands eigener Vergangenheit eine besondere Verantwortung ableiten, innerhalb der internationalen
Gemeinschaft Menschenrechtsverbrechen kenntlich zu machen und aufzuarbeiten.
Auch wenn es bei meinen Vorrednern schon anklang: Ich glaube, wir sollten uns die Fakten noch mal vor Augen führen. Die nackten Zahlen: Schon am Ende
der 1920er-Jahre waren Lebensmittel in der Sowjetunion knapp. Hunderttausende verhungerten im Winter 1931/1932. Am 14. Dezember 1932 unterschrieb Stalin den
Beschluss mit dem Titel „Über die Getreidebeschaffung in der Ukraine, im Nordkaukasus und in der Westregion“. Im darauffolgenden Winter verhungerten in der
Ukraine 3 bis 3,5 Millionen Menschen, und das ist nur eine Schätzung. Auch in Kasachstan waren es 2 Millionen Menschen. Weitere Hunderttausende verhungerten in
der Kuban-Region und entlang der Flüsse Wolga und Don.
Wie gesagt: Diese Zahlen sind Schätzungen. Aber jede dieser Zahlen schildert das Ausmaß der unvorstellbaren Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Hinter all diesen Millionen stehen Menschen, die qualvoll an Unterernährung starben. Die wenigen zeitgenössischen Berichte beschreiben grausame Szenen
verhungernder Kinder mit aufgeblähten Bäuchen. Und um das noch mal deutlich zu machen: Es waren geplante, ungeheure Verbrechen! Diese Katastrophe beruhte nicht
auf Missernten. Die Ernte im gesamten Land wurde kollektiviert und der Bevölkerung das Essen einfach weggenommen.
Der Hunger wurde als Waffe und als Mittel stalinistischer Säuberungen eingesetzt. Der Zentralstaat zielte damit auch auf die Unterdrückung des
ukrainischen Nationalbewusstseins ab. Angehörige der ukrainischen Eliten wurden verfolgt, sie wurden inhaftiert, und sie wurden ermordet, wenn sie nicht schon
verhungert waren. Von alldem betroffen war die gesamte Ukraine, nicht nur die Regionen, die als Kornkammer gelten.
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, der Historiker Gerhard Simon bezeichnete das Verschweigen als den letzten Akt dieser Verbrechen. Ein halbes
Jahrhundert lang sei der Holodomor zum Tabu, zum Nichtgeschehen geworden. Nicht einmal in geheimen Dokumenten der sowjetischen Führung sind die Hungertoten
erwähnt worden. Nur in den Familien und unter Freunden sei das Wissen um das Grauen dieser Jahre erhalten geblieben, so Simon. – Aus politisch-historischer
Sicht heute ein Völkermord.
Erst seit 1998 gibt es in der Ukraine den offiziellen „Tag der Erinnerung an die Opfer des Holodomor“, immer am vierten Samstag im November. Dieser
Tag ist bedeutend. Traumata, die nicht aufgearbeitet werden, belasten nicht nur die Überlebenden und die Zeitzeugen. Mit all den Folgen, die wir heute aus der
Traumaforschung kennen, vererben sie sich auch an die nächsten Generationen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Holodomor war eine gewollte und geplante Hungersnot, um die Ukraine gefügig zu machen, um sie dem sowjetischen
System einzuverleiben. Die Ukraine hat das nicht vergessen, und auch wir werden es nicht vergessen.
Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Was passiert also jetzt, wenn ein Wladimir Putin sagt, die Ukraine sei ein unveräußerlicher Teil der russischen Geschichte, Kultur und Religion? Was
passiert jetzt bei der sinnlosen Zerstörung der Infrastruktur? Was passiert angesichts der vielen Opfer, der vielen Toten und Verwundeten? Was passiert
angesichts eines Krieges, der darauf angelegt ist, die Ukraine zu vernichten, wieder zu vernichten?
Womit Putin nicht gerechnet hat: dass auch die Erinnerung an den Holodomor die Ukrainerinnen und Ukrainer zusammenschweißt. Der Holodomor hat sich
tief im nationalen Gedächtnis der Ukraine eingegraben. Und dass wir heute gemeinsam diesen Antrag verabschieden, das schweißt uns vielleicht noch einmal mehr
mit der Ukraine zusammen. Das Unrecht von damals muss als solches benannt und aufgearbeitet werden. Und das heißt für unsere Politik heute: Lassen Sie uns die
Ukraine, wie es im Antrag steht, als Opfer der imperialistischen Politik Wladimir Putins weiterhin politisch, finanziell, humanitär und militärisch
unterstützen!
Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Das Wort hat Dr. Marc Jongen für die AfD-Fraktion.
Beifall bei der AfD)