Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Demokratie lebt vom Wettstreit der Argumente, und die Opposition soll deswegen natürlich die Koalition kritisieren, auch beim Bürgergeld. Nehmen wir das Beispiel Schonvermögen. Wir sind der Meinung, dass ein Selbstständiger, wenn er zum Beispiel durch einen Schicksalsschlag auf die Grundsicherung angewiesen ist, nicht als Erstes seine Altersvorsorge aufbrauchen soll. Sie sehen das anders. Das ist Ihr gutes Recht. Darüber können wir hier streiten. Es macht aber einen zentralen Unterschied – das ist mir bei dieser Debatte wirklich wichtig –, ob man ein alternatives politisches Urteil fällt oder ob man alternative Fakten erfindet. Das haben wir hier in der Bürgergelddebatte erlebt. Wir brauchen in der Demokratie – das ist mir wirklich ernst – eine gemeinsame Debattengrundlage auf Basis von Fakten. Mir liegt hier der sitzungswöchentliche Brief von Friedrich Merz aus der letzten Sitzungswoche, erste Lesung Bürgergeld, vor, wo sich schwarz auf weiß Aussagen finden, die wir auch die letzten Tage immer wieder in der Debatte gehört haben: Mit dem Bürgergeld soll eine sechsmonatige sanktionsfreie Karenzzeit eingeführt werden, sagen Sie, Herr Merz. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist schlicht nicht wahr. Es stimmt nicht. Es gibt keine sanktionsfreien Zeiten im Bürgergeld, sondern 80 Prozent der Sanktionen werden auch in den ersten sechs Monaten weiter verhängt, danach sogar das volle, verfassungsrechtlich mögliche Maß. Das ist kein Geheimnis. Kolleginnen und Kollegen der Grünen hätten sich das anders gewünscht. Das ist in einer Demokratie auch okay. Aber wer etwas anderes verbreitet, der verbreitet Fake News, und das geht nicht in einer demokratischen Debatte. Ein weiteres Zitat aus Ihrem Brief: Die Regelsätze sollen über die Inflationsanpassung hinaus angehoben werden. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist schlicht nicht wahr. Es stimmt nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union. An der Berechnungsmethode für die Regelsätze ändert sich nichts. Zu Recht gleichen wir die Inflation nicht mehr erst anderthalb Jahre später aus. Das ist auch eine Frage der Fairness. Und ja, es ist bekannt: Manche Kolleginnen und Kollegen aus Koalitionsfraktionen von SPD und Grünen hätten sich eine andere Berechnungsmethode gewünscht. Aber das steht nicht im Gesetzentwurf, den wir hier beraten. Vollends schizophren wird es, wenn Sie behaupten, durch das Bürgergeld lohne sich Arbeit in Deutschland nicht mehr. Erstens ist das in jedem einzelnen Fall falsch. Zweitens polemisieren Sie damit gegen eine Berechnungsmethode für die Regelsätze, die eine CDU-Ministerin selber eingeführt hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist doch schizophren und unredlich. Vollends verrückt wird es dann mit Ihrem Move dieser Woche, dass Sie die Regel- – – Ich nehme gerne eine Zwischenfrage. Die Frage gibt mir die Gelegenheit, etwas aufzuklären, was in den letzten Tagen in der Debatte irreführend war. Richtig ist, dass in unserem Sozialstaat, übrigens vorgegeben durch Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die Ansprüche auf das Existenzminimum, zum Beispiel bei großen Familien, so hoch sind, dass ein Alleinverdiener mit Mindestlohn das nicht alleine durch seinen Arbeitslohn erwirtschaftet. Das ist richtig. Das ist Ausdruck des Sozialstaatsprinzips; das gibt unsere Verfassung vor. Das hat aber genau nichts mit dem Bürgergeld zu tun, weil das heute schon der Fall ist, und zwar richtigerweise. Die Frage ist also: Wie können wir dafür sorgen, dass sich Anstrengung zum Beispiel auch bei diesen großen Familien, wenn Menschen arbeiten, stärker lohnt? Heute schon gibt es keinen Fall, in dem derjenige, der arbeitet, weniger hat als derjenige, der nicht arbeitet – das ist auch richtig –, und zwar dank Kindergeld, Kinderzuschlag, Wohngeld, all dem, was wir jetzt an die Inflation anpassen. Aber richtig ist: Es muss sich stärker lohnen. Dann muss man an ein Thema ran, das mir in der Tat sehr am Herzen liegt, nämlich das Thema Zuverdienstregeln. Deshalb ist es auch so absurd, was die Union diese Woche vorschlägt, nämlich einfach nur die Regelsätze zu erhöhen, ohne durch die Reform des Bürgergelds auch für mehr Leistungsgerechtigkeit und Aufstiegschancen zu sorgen. Das müssen wir doch tun, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich würde jetzt gern den Gedanken kurz zu Ende führen. Der Kollege Matthias Birkwald verzeiht mir das. – Nein, das ist die Wahrheit. Ich erinnere mich gut an meine erste politische Verhandlung als junger Abgeordneter in der schwarz-gelben Koalition mit dem CDU-Kanzleramtsminister und der CDU-Arbeitsministerin. Ich habe mich dafür eingesetzt, dass die Zuverdienstregeln reformiert werden. Ich habe mich damals nicht durchsetzen können, weil Sie Angst vor Statistikeffekten hatten. Ich habe das aber nicht vergessen. Wir müssen an diese Ungerechtigkeit unseres Sozialstaats endlich ran. Es muss sich mehr lohnen, Schritt für Schritt aus der Grundsicherung rauszuwachsen. Das schaffen wir jetzt endlich; das ist Kern der Bürgergeldreform, liebe Kolleginnen und Kollegen. Damit machen wir übrigens auch klar, dass junge Menschen in diesem Land endlich stärker Piloten des eigenen Lebens werden. Heute lohnt sich nämlich häufig auch eine Ausbildung nicht. Das machen wir anders, das machen wir besser durch das Bürgergeld. Heute kann zum Beispiel Annika, die in einer Hartz‑IV-Familie groß wird und im Minijob arbeitet, von 520 Euro nur 184 Euro behalten. Wenn Aishe, deren Eltern finanziell auf eigenen Beinen stehen, denselben Minijob macht, dann kann sie 520 Euro behalten. Junge Menschen erfahren in diesem Land heute – vor dem Bürgergeld – am Anfang ihres Lebens, dass sich ihre Anstrengung nicht lohnt, dass es keinen Unterschied macht, wenn sie arbeiten, dass sie schlechtere Chancen haben, weil ihre Eltern in schwieriger Lage sind. Das ist das Gegenteil von Chancengleichheit unabhängig von der Herkunft. Das verbessern wir endlich durch mehr Leistungsgerechtigkeit und Aufstiegschancen. Das macht nämlich vor allem was in den Köpfen. Meine Fraktion hat diese Woche drei junge Menschen nach Berlin eingeladen: Ferhat, Zara und Alex. Jeder kann sich ihre Geschichten seit heute Morgen auf Youtube anschauen. Sie beschreiben sehr eindrücklich, was das in den Köpfen und den Herzen macht, wenn man wegen der Familie, in die man geboren wurde, schlechtere Chancen hat. Wir müssen uns doch nicht wundern, dass in unserem Land Chancen stärker von der Herkunft abhängen, wenn wir bereits am Anfang des Lebens jungen Menschen Steine in den Weg legen. Das schaffen wir endlich ab, und darauf bin ich stolz. Denn für diese Menschen kämpfen wir und machen unseren Sozialstaat fairer. Deshalb stimmen wir heute für das Bürgergeld. Vielen Dank.