Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach der vermeintlich seelenhygienischen Nabelschau der AfD kommen wir zurück zum Thema. Herr Jongen, auch die Documenta werden wir im nächsten Kulturausschuss ausführlich besprechen. Da haben wir dann den richtigen Ort und den richtigen Zeitpunkt – es freut mich auch, wenn Frau Bär dabei ist –, da werden wir die Dinge diskutieren. Es war der 9. Oktober 2020 – das ist noch keine zwei Jahre her –, als der Deutsche Bundestag den Weg für das zukünftige Dokumentationszentrum geebnet hat, das Dokumentationszentrum „Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa“. Heute leben wir in einer anderen Welt. Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt. Wir stehen vor Herausforderungen, deren wirkliche Dimension wir heute nur erahnen. Wunden sind wieder aufgerissen worden. Verdrängte Erinnerungen lassen sich nicht weiter verstecken. Wenn tagtäglich Menschenleben ausgelöscht werden, wenn Bomben Häuser, Dörfer und ganze Städte zerstören, bewegt das auch uns, weil der Krieg auch Teil unserer Geschichte ist, unserer gemeinsamen europäischen Geschichte, weil unsere Anstrengungen in den letzten 77 Jahren, Frieden zu halten, Frieden zu schaffen, letztendlich vergeblich waren. Im Umgang mit Putin waren wir alle in diesem Haus zu leise, zu pragmatisch, zu naiv. Unser eigenes Erinnern ist kein Selbstzweck. Unsere Gedenkstätten sind kein Ersatz für erlittenes Leid. Unser Erinnern muss immer auch Auftrag für unsere Zukunft sein. Erinnern kennt keinen Schlussstrich. Aus den Erfahrungen unserer Vergangenheit leitet sich ein konkreter Auftrag an uns ab: Nie wieder Krieg, nie wieder! Diesen Auftrag müssen wir erfüllen: nicht leise, sondern mit fester und deutlich hörbarer Stimme; nicht pragmatisch, sondern engagiert, auf der Grundlage unseres Wertekanons; nicht naiv, sondern konkret, im Einklang mit unseren Nachbarn, über die Deutschland so viel Leid gebracht hat. Heute diskutieren wir einen Gedenkort für unsere Zukunft, für die Zukunft Europas. Uns liegt ein 65 Seiten umfassender Realisierungsvorschlag vor. Das Dokumentationszentrum wird die bis heute nachwirkenden Erfahrungen der von Deutschland im Zweiten Weltkrieg besetzten Länder in ganz Europa umfassend würdigen. Die Perspektive dieser Länder ist es, die wir in die breite Öffentlichkeit tragen wollen. Das Dokumentationszentrum wird dann Erfolg haben, wenn es aus der Mitte des Parlaments und auch aus der Mitte der Gesellschaft heraus gemeinsam entwickelt wird. Das neue Dokumentationszentrum ist für alle Menschen in den von Deutschland besetzten Gebieten. Breite, Wahrnehmung und Relevanz wird es nur erreichen, wenn konsequent der fortlaufende Dialog mit Opfern, Opfervertretungen, Opferverbänden und zivilgesellschaftlichen Initiativen aus allen Ländern auch gesucht wird. Ich möchte Kulturstaatsministerin Claudia Roth, ihrer Vorgängerin Monika Grütters und Raphael Gross, dem Präsidenten des Deutschen Historischen Museums, herzlich danken. Ich danke ihnen und ihren Kolleginnen und Kollegen für die intensive Arbeit der vergangenen Monate, genauso den zahlreichen Expertinnen und Experten aus den 27 Ländern, an die sich dieses Zentrum richtet, sowie der Arbeitsgruppe „Erinnern und Gedenken“. Wir Freien Demokraten haben das Vorhaben von Beginn an unterstützt. Im Koalitionsvertrag haben wir uns dazu klar bekannt. Wir wollen unseren Beitrag leisten, dass dieses Dokumentationszentrum ein Erfolg wird und zu einer weiteren Aussöhnung beiträgt. Am 9. Oktober vor fast zwei Jahren stellte ich die Frage: Bei der Antwort auf diese Frage gibt es heute sicherlich keine zwei Meinungen mehr. Doch umso mehr Sensibilität erfordern die Umsetzung und die Einbindung unserer Nachbarn heute. Wenn wir Räume der Begegnung und des Dialogs schaffen wollen, dann müssen wir auch Außerordentliches leisten. Der vorliegende Realisierungsvorschlag stellt eine solide, eine gute Grundlage dar, um die vielen offenen Fragen auch im Umgang mit der Ukraine, der Russischen Föderation und Belarus für uns neu zu beantworten. Wie gewährleisten wir Bildung und Forschung vor Ort angesichts der angespannten Sicherheitslage? Wie gewährleisten wir in der aktuellen Situation, dass beteiligte Historikerinnen und Historiker nicht Vertreter ihrer Länder, sondern allein Vertreter der Wissenschaft sind? Der „Spiegel“ beschrieb es Anfang März provokant, traf jedoch einen Punkt, dem wir uns bewusst stellen sollten. Zitat: Präsident Gross hat daher absolut recht, wenn er umso mehr eine weitere, intensive wissenschaftliche Begleitung einfordert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns das Dokumentationszentrum „Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft“ im Dialog weiterentwickeln, hier im Parlament, in Forschung und Wissenschaft, in der Gesellschaft, aber vor allem im Dialog mit den Menschen in den Ländern, denen Deutschland so viel Schmerz bereitet hat. Dann wird es seine Aufgabe erfüllen: Menschen versöhnen, die Jugend sensibilisieren und Zukunft ermöglichen. Vielen Dank.