Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Titel dieser Debatte ist „Zur Situation in Deutschland“. Und ich frage Sie ganz ehrlich, werte Kolleginnen und Kollegen: Was glauben Sie eigentlich, wer uns hier gerade zuschaut und wie man die Menschen an dieser Stelle überzeugt? Was glauben Sie eigentlich, was die Menschen in diesem Land wirklich hören wollen? Wenn die Union sich darüber beschwert, dass die SPD sich nur an der Union abarbeitet, und die Union dann gar nichts anderes zu tun hat, als sich ausschließlich in ihren Reden an dieser Regierung abzuarbeiten: Glauben Sie irgendeinen in diesem Land interessiert die Selbstbeschäftigung des Deutschen Bundestages miteinander an dieser Stelle? Über Deutschland zu reden, heißt für mich, als Allererstes am Ende dieser Legislaturperiode ein Dankeschön auszusprechen, ein Dankeschön an die Millionen Menschen in diesem Land, die zwei Krisen hinter sich haben, die Coronakrise und den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, an die Millionen von Menschen, die sich in diesen Krisen solidarisch gezeigt haben, an die Millionen von Menschen, die in diesen Krisen resilient waren, die in diesem Land angepackt haben, die gemeinsam dafür gesorgt haben, dass wir besser durch diese Zeit gekommen sind, als viele es gedacht hätten. Danke an Sie, sehr geehrte Damen und Herren in Deutschland! Es ist Ihre Leistung, und die war wirklich groß. Das gehört hier im Deutschen Bundestag an dieser Stelle auch gewürdigt. Das Zweite, was zu sagen ist, wenn man über Deutschland redet: Lasst uns doch zuhören, was die Menschen uns sagen. Sie, Herr Merz, haben eben in Ihrer Rede einen erstaunlichen Satz gesagt. Sie haben gesagt, wir hätten versucht, unsere linke Politik gegen eine erkennbare Mehrheit der Bevölkerung durchzusetzen, und damit wollten Sie Schluss machen. Dann lassen Sie uns doch mal anschauen, werte Kollegen von Union und FDP, was sich eine Mehrheit der Menschen in diesem Land so wünscht: Eine Mehrheit der Menschen in diesem Land wünscht sich mehr Selbstbestimmung von Frauen. Eine Mehrheit der Menschen in diesem Land wünscht sich, dass der Deutsche Bundestag in dieser Woche die Chance gehabt hätte, über die Frage abzustimmen, ob man Frauen im Jahre 2025 zutraut, selbstbestimmt über das Thema Schwangerschaftsabbrüche zu entscheiden. 74 Prozent der Menschen in diesem Land sagen, das hätte passieren müssen. Selbst eine Mehrheit der Wählerinnen und Wähler der Union fände es richtig, wenn das Parlament in dieser Woche diese Entscheidung hätte treffen können. Eine Mehrheit der Menschen in diesem Land wünscht sich auch, dass wir etwas für bezahlbare Mieten tun. 60 bis 70 Prozent der Menschen in diesem Land sprechen sich für eine staatliche Regulierung von Mieten aus. Eine Mehrheit der Menschen in diesem Land wünscht sich einen Mindestlohn von 15 Euro; 60 Prozent der Deutschen sind dafür. 86 Prozent der Deutschen in diesem Land sind für eine sichere Finanzierung des Deutschlandtickets, wogegen die CSU sich in dieser Woche gestellt hat. Eine gigantische Mehrheit der Menschen in diesem Land wünscht sich, dass wir etwas gegen Kinderarmut tun. Ich finde es erschreckend, dass gerade die Kleinsten in diesem Land, gerade diejenigen, die unsere Zukunft sind, in dieser Debatte im Deutschen Bundestag so selten eine Rolle gespielt haben. Der Schutz von Kindern, die Bekämpfung von Kinderarmut, das gute Aufwachsen von Kindern, das gehört in den Mittelpunkt der politischen Debatte und nicht an den Rand gedrängt. Kinder sind unsere Zukunft, und wer hier am Pult des Deutschen Bundestages steht, der hat den verdammten Job, funktionierende Vorschläge zu machen, wie Kinder in diesem Land aufwachsen sollen. Die Mehrheit der Menschen in diesem Land wünscht sich schlichtweg, dass wir etwas für ihren Alltag tun. Falls es Sie wundert, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union, warum diese Befragungen alle so eindeutig sind, sage ich Ihnen: Das liegt an der Lebensrealität der Menschen in diesem Land. Lebensrealität der Mehrheit der Menschen in diesem Land ist eben nicht, dass sie 100 000, 200 000 oder 300 000 Euro im Jahr verdienen. Die Hälfte der Deutschen verdient 44 000 Euro oder weniger im Jahr. Und diese Menschen fragen sich, wie sie sich ihren Alltag noch leisten sollen, und diese Menschen fragen uns, welche konkreten Antworten wir für ihren Alltag bieten. Und zu all diesen Maßnahmen, die ich gerade vorgestellt habe, sagen wir Grünen: Ja! All diese Maßnahmen wollen wir hier im Deutschen Bundestag beschließen. Mit all diesen Maßnahmen könnten wir ihr Leben ganz konkret besser machen. Sie als CDU wollen das nicht. Sie sagen, Sie wollen Steuersenkungen in Höhe von 100 Milliarden Euro beschließen – trotz der Tatsache, dass Sie das im Rahmen der Schuldenbremse nicht darstellen können und Ihnen selbst der Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft gesagt hat, dass das, was Sie hier vorschlagen, gegen die simpelsten Grundrechenarten verstößt, weil Sie null erklären können, wie das im Bundeshaushalt gegenfinanziert werden soll. Außerdem wollen Sie die Hälfte dieser 100 Milliarden Euro – 50 Milliarden Euro im Jahr – den reichsten 10 Prozent der Menschen in diesem Land geben. Das ist Ihre politische Prioritätensetzung! Darüber sollten wir reden. Das ist nämlich eine schlechte Nachricht für 90 Prozent der Menschen in diesem Land. Wenn Sie denjenigen, die so hohe Einkommen wie wir haben, immer weiter mehr Geld geben wollen, dann ist das nicht gerecht. Das ist nicht zukunftsfähig, sondern das ist am Ende einfach eine Verschwendung von Geld, das wir an anderer Stelle dringend gebrauchen könnten. Was wir wirklich miteinander tun könnten – auch dafür gibt es eine Mehrheit in diesem Land –, wäre, dafür zu sorgen, dass wir in unsere Zukunft investieren. Wenn mich Schüler in meinem Wahlkreis in Köln-Chorweiler fragen, ob junge Erwachsene, ob junge Menschen uns eigentlich so wenig wert sind, dass wir es zulassen, dass sie in vollkommen maroden Schulen lernen, dann ist meine Antwort: Nein, wir müssten das nicht zulassen. Wir könnten etwas dagegen tun. Wir könnten eine Sanierungsoffensive für die Schulen in diesem Land gemeinsam hier im Deutschen Bundestag beschließen, wenn es eine politische Mehrheit dafür gäbe. Wenn Unternehmer in diesem Land mich genervt fragen, warum keine Güterzüge mehr auf die Schiene passen und warum die Brücken so marode sind, dass die Lkws im Stau verenden, dann ist meine Antwort: Das müsste nicht so sein. Wir könnten gemeinsam etwas dagegen tun, wir könnten uns gemeinsam für eine Infrastrukturoffensive entscheiden, wenn wir die Mehrheit im Deutschen Bundestag hätten, entschlossen zu investieren. Und wenn die Schülerinnen und Schüler am Freitag zum Klimastreik auf die Straße gehen und uns fragen: „Habt ihr als Deutscher Bundestag wirklich nicht mehr im Angebot, was ihr in Sachen Klimaschutz beschließen könntet?“, dann ist die Antwort: Natürlich gibt es mehr, was wir tun könnten. Wir könnten Bus und Bahn so ausbauen, dass sie überall fahren, auch auf dem Land. Wir könnten Tempo machen beim Ausbau der Stromnetze, sodass billiger Strom aus dem Norden selbst in Bayern ankommt. Wir könnten die Industrie stärker unterstützen, sodass sie mehr in klimaneutrale Produktionstechnologien investieren könnte. Wir könnten einen flächendeckenden Ausbau der Elektromobilität, der Ladesäuleninfrastruktur in diesem Land hinkriegen und damit zu fairer und klimagerechter Mobilität in diesem Land kommen. Das alles wäre möglich, wenn es dafür eine politische Mehrheit im Deutschen Bundestag gäbe. Dafür braucht es aber tatsächlich drei Fraktionen: Es braucht die SPD, es braucht die Grünen, und es braucht die CDU/CSU dafür; denn das alles ist nur möglich, wenn wir gemeinsam die Schuldenbremse reformieren. Dafür könnten wir unser Grundgesetz miteinander reformieren. Das können zwei Fraktionen alleine nicht tun. Damit hätten die Menschen am Ende ein Land, das sie verdient hätten, ein Land, das einfach funktioniert. Mit den 100 Milliarden Euro, die Sie jedes Jahr ausgeben wollen, um sie den Reichsten zu schenken, könnten wir gute Schulen, schnelles Internet, eine funktionierende Bahn, sanierte Brücken und am Ende auch noch Klimaschutz ermöglichen. Wenn Sie sich dagegen entscheiden, dann entscheiden Sie sich gegen ein funktionierendes Land, dann entscheiden Sie sich für die Politik der letzten 16 Jahre, die Sie verantwortet haben, für ein marodes Land, das notwendige Reformen aufschiebt, das am Ende nicht in die Zukunft investiert. Das ist dann Ihre Prioritätensetzung. Wir bieten Ihnen etwas anderes an. Gemeinsam mit der SPD bieten wir Grünen Ihnen an, in die Zukunft zu investieren. Unser Land hätte das echt verdient. Ein letzter Satz zu diesem Wahlkampf. Ich glaube, dieses Land hat einen anderen Wahlkampf verdient als einen Wettbewerb aus Empathielosigkeit und Härte. Am Sonntagabend sahen wir ein Fernsehduell zwischen den Kandidaten von SPD und CDU, und es ging bei dem Thema Bürgergeld ausschließlich darum, wer die schärfsten Sanktionen in diesem Land beschließen kann – ohne einen einzigen Satz von Empathie und Mitgefühl gegenüber den 1,5 Millionen Kindern, die auch auf Bürgergeld angewiesen sind, gegenüber Menschen, die krank sind und nicht arbeiten können, gegenüber Alleinerziehenden, die Kinder versorgen müssen und deswegen nicht ausreichend arbeiten gehen können, gegenüber Menschen, die aufstocken müssen. Und es wurde über Asyl geredet – ohne einen einzigen Satz des Mitgefühls gegenüber Menschen, die vor dem Schlimmsten fliehen: Terror, Krieg, Tod. Nicht mal den Kindern hat man gesagt: Wir wissen, ihr sucht hier einfach nur Sicherheit und Schutz, und wir Politiker, die wir die Verantwortung tragen, versprechen euch: Diesen Schutz gewähren wir euch. – Wenn diese Sätze des Mitgefühls abhandenkommen in der politischen Debatte, dann gerät etwas ins Rutschen. Ich finde, politische Verantwortung und politischer Anstand heißt, dass man sich auch vor diejenigen stellt, die am wenigsten eine Stimme haben im gesellschaftlichen Diskurs, vor diejenigen, die am wenigsten für sich sprechen können und die am leichtesten zu Sündenböcken in der Gesellschaft gemacht werden können. Politische Verantwortung und politischer Anstand heißt, das ausgerechnet nicht zu tun. Ich kann nur an Sie appellieren: Wir können diesen Wahlkampf besser; Sie können diesen Wahlkampf besser!