- Bundestagsanalysen
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ansbach, Bernburg, Gomaringen, Hadamar, Pirna – Ortsnamen, die klingen wie viele Tausend andere auch in Deutschland, Ortsnamen, die aber eine traurige Gemeinsamkeit teilen: An diesen und vielen anderen Orten führten die Handlanger der Nazis vor und während des Zweiten Weltkriegs menschenverachtende Experimente und Massenmorde durch, zusammengefasst unter dem verharmlosenden Begriff „Euthanasie“, der schöne Tod. An diesen Orten verloren fast 300 000 Menschen ihr Leben, nur weil sie nicht passten – nicht passten in die wahnwitzige Weltanschauung der Nationalsozialisten.
Bereits früh begannen sie, unliebsame Bevölkerungsgruppen zu entrechten, auszugrenzen, zu stigmatisieren. Als einen ersten Schritt verabschiedete die nationalsozialistische Regierung am 14. Juli 1933 das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Damit wurde versucht, durch Zwangssterilisation die Weitergabe sogenannter Erbkrankheiten zu verhindern. Dazu zählten die Nazis körperliche und geistige Behinderungen, Schizophrenie, Blindheit und Taubheit, aber auch Tuberkulose und Alkoholabhängigkeit fielen unter dieses Gesetz.
Fast 400 000 Menschen wurden zwischen 1933 und 1945 zwangssterilisiert. Man nahm ihnen das Recht auf eigene Kinder, auf eigene Familie. Die Betroffenen erlebten nicht nur körperliche Eingriffe, sondern auch einen umfassenden Ausschluss aus dem Bildungs- und Sozialbereich.
Die Entmenschlichung ging weiter. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden die Zwangssterilisationen eingeschränkt. Jetzt begann der Mord an Kranken, Alten und Kindern, auch aus ökonomischen Überlegungen. Ab 1939 wurde die sogenannte Kindereuthanasie betrieben, ein Todesurteil für rund 5 000 Kinder. Ab 1940 folgte die T4-Aktion: die Ermordung von über 70 000 Menschen. Sie war der grausame Auftakt zur industriellen Vernichtung von Millionen Menschenleben.
In unzähligen Heil- und Pflegeanstalten, Altenheimen und Fürsorgeeinrichtungen fand die sogenannte wilde Euthanasie statt. Menschen wurden von denen zum Tode verurteilt oder gleich umgebracht, die eigentlich dazu ausgebildet waren, die Schwächsten in der Gesellschaft zu beschützen. Ein handschriftliches Kreuz auf einer Patientenliste reichte aus.
Die Stigmatisierung hielt auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs an. Lange, viel zu lange mussten die überlebenden Opfer und ihre Angehörigen um gesellschaftliche Anerkennung kämpfen, von juristischer ganz zu schweigen. Die damals herrschende Rechtspraxis machte es schwer, die Täter und Täterinnen zur Verantwortung zu ziehen. Fehlendes Schuldbewusstsein kam wie bei so vielen Handlangern des Naziregimes dazu. Viele der beteiligten Pfleger und Ärzte blieben nach dem Krieg in ihren Positionen und unbehelligt.
Auch die wissenschaftliche Aufarbeitung der Gräuel fiel schwer. Aufgrund des postmortalen Persönlichkeitsschutzes blieben die Opfer viele Jahre lang weiter anonym. Dass dieser als Opferschutz gedachte Ansatz die Stigmatisierung weiter betrieb, darauf kann man erst spät. Viel zu spät wurde sie allmählich aufgelöst. Endlich wurden die Opfer aus der Anonymität geholt und ihr Leid anerkannt.
Dieser Weg ist nicht abgeschlossen. Wir wollen ihn mit unserem Antrag weitergehen. Wir wollen mehr Sichtbarkeit für die Opfer. Wir wollen weitere Aufklärung innerhalb der Bevölkerung und die wissenschaftliche Aufarbeitung der Taten vorantreiben. Wir wollen eine weitere Vernichtung der Krankenakten verhindern und eine gemeinsame Datenbasis schaffen, nicht nur für die Wissenschaft und Forschung, sondern auch für die Familien und Nachkommen der Geschädigten.
Wir wollen die volle Anerkennung der Opfer der NS-Euthanasie und der Zwangssterilisation als Verfolgte des NS-Regimes. Denn wir aus der breiten Mitte des Deutschen Bundestages heraus bekennen uns zu unserer Verantwortung, zur Verantwortung Deutschlands gegenüber unserer Geschichte. Wir bekennen uns auch zu unserer Verantwortung gegenüber den Opfern, den Hinterbliebenen und den Nachkommen der Geschädigten.
Diesen Weg der Anerkennung unserer Verantwortung gingen wir in dieser Legislaturperiode in der ehemaligen Ampel, zumeist gemeinsam mit der Union, konsequent weiter. Dafür danke ich meinen Mitstreitern sehr. Aber es reicht nicht. Die jüngste Umfrage der Claims Conference zur Kenntnis über die Shoah zeigt: In der deutschen Bevölkerung, vor allem in der Jugend, klaffen erschreckende Wissenslücken. Das kann uns nicht kaltlassen.
Die Überarbeitung des Gedenkstättenkonzepts ist überfällig. Damit muss die Erinnerungsarbeit in unseren Gedenkstätten deutlich gestärkt werden. Schulen und Bildungseinrichtungen müssen reagieren, Lehrpläne angepasst werden. Die Erinnerungsarbeit muss auch im digitalen Raum erfahrbar, spürbar sein. Das ist unsere Verantwortung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen um unsere Vergangenheit. Daraus leitet sich unser Auftrag für das Jetzt und Heute ab und vor allem für die Zukunft: Aufstehen gegen Unrecht und Ausgrenzung, Aufstehen gegen Antisemitismus und Menschenhass, Eintreten für Demokratie und Rechtsstaat, für Toleranz und Freiheit, für die Würde des Menschen – eines jeden einzelnen Menschen.
Herr Präsident, weil Parteien Listen aufstellen, weil Fraktionen Wahlgesetze verändern, weil Wählerinnen und Wähler über die Zusammensetzung des nächsten Deutschen Bundestages entscheiden, müsste der Genosse Trend für meine Partei noch deutlich zulegen, damit auch ich dem nächsten Bundestag angehöre.
Heiterkeit)
Deswegen vorsorglich, rein vorsorglich: Ich danke den Mitgliedern des Kulturausschusses, des Europaausschusses, des Unterausschusses für Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik für die kollegiale Zusammenarbeit, in einigen Fällen auch freundschaftliche. Es war mir eine Ehre und in den allermeisten Fällen auch eine Freude.
Danke.
Beifall bei der FDP, der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vielen Dank, Herr Kollege Hacker. – Diese Abschiedsrede unter Vorbehalt könnte – Stand heute – fast jeder aus der FDP-Fraktion halten.
Heiterkeit bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Ich gebe das Wort dem Kollegen Volker Münz, AfD-Fraktion.
Beifall bei der AfD)