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Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Naomi! Wie eine Gesellschaft mit denen umgeht, die ihre Hilfe brauchen, zeigt, wohin der Kompass dieser Gesellschaft weist. Unter der Terrorherrschaft der deutschen Nationalsozialisten trat an die Stelle des Individuums, des einzelnen Menschen, der überindividuelle Volkskörper. „Aussonderung nach Kriterien der Wertigkeit“ wurde zur ärztlichen Aufgabe, so Wolfgang Benz, die Kriegstauglichkeit immer im Blick.
Verharmlosend wurden die NS-Krankenmorde als „Euthanasie“ bezeichnet, als schöner Tod, als Befreiung von angeblich lebensunwertem Leben. Anstatt Hilfe und Heilung brachten Ärzte Sterilisation und Tod. Heute steht im ärztlichen Gelöbnis als Folge dieser Verbrechen, dass Ärztinnen und Ärzte immer und unbedingt im Dienst der Menschlichkeit zu stehen haben.
Was bleibt, ist die Erschütterung über das so fundamentale Versagen auf allen Ebenen, über die „Atmosphäre totaler moralischer Gleichgültigkeit“, von der Hannah Arendt in ihrer Analyse des Eichmann-Prozesses schreibt, Erschütterung über die Mittäterschaft von Fürsorgeeinrichtungen und Behörden, von Pflege und Ärzteschaft – die Atmosphäre totaler moralischer Gleichgültigkeit. Das ist unentschuldbar.
Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP und der Abg. Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU])
Die Erinnerungskultur gehört nicht nur in die Geschichtsbücher. Sie ist unsere Chance für die Zukunft, unsere Chance, immer wieder zu prüfen: Funktioniert er noch, unser Kompass?
Lange wurde die Geschichte der Euthanasieopfer und der Opfer von Zwangssterilisation verschwiegen. So entstanden Leerstellen in den Familiengeschichten. Der Antrag setzt hier an und stellt zunächst ausdrücklich fest: Die Opfer der NS-Euthanasie und von Zwangssterilisation sind als Verfolgte des NS-Regimes anzuerkennen. – Das ist von entscheidender Bedeutung. Vom ideologischen Gehalt des Begriffs „Euthanasie“ distanzieren wir uns. Niemand hat das Recht, das Leben eines anderen für lebensunwert zu erklären.
Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP])
Meine Damen und Herren, ich bin dankbar dafür, dass dieser Antrag heute fraktionsübergreifend verabschiedet wird. 80 Jahre sind seit der Schreckensherrschaft vergangen. Dass der Beschluss erst heute gefasst wird, ist also wahrlich kein Grund, sich auf die Schultern zu klopfen. Dafür hat es einfach zu lange gedauert.
Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Mit dem Antrag wird die Sicherung von Patientenakten vorangebracht, damit die Lücken in der Aufarbeitung der Nachgeschichte nach 1945 geschlossen werden können. In diesen Prozess werden Expertinnen und Experten der Gedenkstätten, Historiker/-innen und zivilgesellschaftliche Initiativen einbezogen; denn aus der Zivilgesellschaft entstand die deutsche Erinnerungskultur. Ihrer unerschrockenen Arbeit ist es zu verdanken, dass die Erinnerung an die Opfer der Euthanasieverbrechen und Zwangssterilisation heute lebt. Dieser Antrag ist ein Bekenntnis zu den universellen Menschenrechten.
Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Aber lassen Sie sich nicht täuschen: Die Nachfolger der Leuteschinder, die Feinde unserer Demokratie hier rechts im Parlament, haben sich ihren Schafspelz übergestülpt. Heute haben sie Zustimmung angekündigt; aber ihr eigenes politisches Geschäftsmodell von Ausgrenzung und Verächtlichmachung, ihr gestörtes Verhältnis zum Menschenrecht der Inklusion gleichen dem Nährboden, der die Euthanasieverbrechen in Deutschland möglich gemacht hat, aufs Haar.
Das ist eine böswillige Unterstellung! Frechheit!)
Dem stellen wir uns entschieden entgegen.
Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU und des Abg. Thomas Hacker [FDP])
Unser Auftrag heute ist, diese so spät erfolgte Anerkennung in Zukunft mit Leben zu füllen, aufmerksam zu sein, uns der Gleichgültigkeit entgegenzustellen. Denn daran wird sichtbar sein, wohin unser menschlicher Kompass zukünftig zeigt.
Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)
Vielen Dank, lieber Kollege Erhard Grundl. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Dorothee Bär, CDU/CSU-Fraktion.
Beifall bei der CDU/CSU)