Sehr geehrter Herr Präsident! Der Stand der deutschen Einheit lässt sich auch an Begriffen oder Erzählungen ablesen. Ich möchte das an der sogenannten Westbindung einmal durchspielen. Die Westbindung beschreibt die ökonomische und militärische Einbindung der alten Bundesrepublik durch zum Beispiel EU oder NATO. Dies führte zu einer Westorientierung, die bis heute politisch, wertemäßig und kulturell wirkt. Allerdings: Diese politische Westorientierung gibt es im Osten der Republik nicht, zumindest nicht so. „Westbindung“, da kann man sich schon fragen: Ist der Begriff eigentlich noch zeitgemäß? Die Bundesrepublik liegt nicht mehr am östlichen Ende von NATO oder EU, sondern mittendrin. Und trotzdem: Die Westbindung wird weiter politisch gelebt, mitunter unreflektiert. Nehmen wir ein ganz kleines Beispiel: das deutsch-französische Jugendticket. Als der Verkehrsminister das Ticket ankündigte, fand ich das gut. Doch da fehlte was. Wir als Landesgruppe Ost der Koalition haben das nachgearbeitet, und nun kommt auch ein deutsch-polnisches Jugendticket. So weit, so gut. Sehen die Menschen mit ostdeutscher Sozialisation einfach andere Punkte als Westdeutsche? Nehmen wir die Debatten über das Sicherheitsgefühl von Russland. Was für erhebliche Unterschiede zeigen sich da! Das Sicherheitsgefühl in Polen hingegen ist in Ost wie West überhaupt kein Thema, und das ist ein Fehler. Die Bundesrepublik liegt mitten in der EU, und das muss endlich in die Köpfe. Daraus ist Politik abzuleiten – in außenpolitischen Debatten genauso wie bei der Frage von Jugendtickets. Aber warum kommt das nicht von alleine? Nun, diesen Punkt macht der Bericht zur deutschen Einheit sehr deutlich: Repräsentation. Die ostdeutsche Perspektive wird nicht oder zu selten eingebracht. Das gilt es zu ändern. Das hängt an Menschen, an Netzwerken. Es ist absurd, dass im Osten Deutschlands fast alle Universitäten, Sparkassen oder auch die Gerichte von Menschen geführt werden, die im Westen der Republik aufgewachsen sind. Das lässt die ostdeutsche Perspektive unbemerkt, ungestört, ohne Debatte. Deswegen ist Repräsentation notwendig. Das meint auch das Grundgesetz in Artikel 36. Die Defizite aufzuführen, reicht nicht. Da wünsche ich mir mehr Maßnahmen, Initiativen und Ressourcen. Das ist die Aufgabe des Ostbeauftragten. Herr Sepp Müller, das sollten Sie sich hinter die Ohren schreiben. Vielen Dank.