Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! 1949 schuf der Parlamentarische Rat – die Erfahrung des Nationalsozialismus noch unmittelbar vor Augen – dieses Grundgesetz. Es sollte mit einem „Nie wieder!“ auf Diktatur, Angriffskrieg und Völkermord antworten. Mit am wichtigsten war die Weichenstellung, dass auch auf Drängen der westlichen Besatzungsmächte die Grundrechte ganz nach vorn an den Beginn des Textes gesetzt wurden, und es wurde ein wirkmächtiges Verfassungsgericht begründet. Ganz nach vorn setzten die Mütter und Väter des Grundgesetzes die Menschenwürde. Und überhaupt: Sprache und Reihenfolge in diesem Verfassungstext wurden mit Bedacht gewählt. Allerdings ist zur Menschenwürde auch wichtig zu sagen: Sie ist nicht als kleine Münze gemeint. Nicht jede Befindlichkeit, nicht alles, was einem nicht gefällt, ist gleich eine Verletzung der Menschenwürde. Sie ist mit Bedacht formuliert, und sie ist es entgegen einer populären Erzählung; denn die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben erkannt, dass es kein humanes Wir gibt, in dem nicht der Einzelne, das Ich, hochgeachtet wird, und deshalb die Menschenwürde nach vorn gestellt, liebe Kollegen. Der Dichter Reiner Kunze hat mit Blick auf seine Erfahrungen in der SED-Diktatur die Zeilen formuliert: Überall, wo abstrakt der Mensch in den Mittelpunkt gestellt wird, aber die Rechte des Einzelnen nicht geachtet werden, gibt es kein humanes Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen. Diese Verfassung, dieses Grundgesetz, will ihren normativen Anspruch auch tatsächlich einlösen. Sie verzichtet deshalb auf eine Inflation von Staatszielbestimmungen und sozialen Grundrechten. Nach dem Motto „Weniger ist mehr“ bestimmt sie wenige, dafür starke, einklagbare Grundrechte. Weil solche Überlegungen hierzulande gern als neoliberale Flausen diffamiert werden, zitiere ich hier den Sozialdemokraten Carlo Schmid: Hier wird bei Carlo Schmid deutlich: Diese Verfassung will die kraftvolle geistige Auseinandersetzung. Sie lässt viel Raum für unterschiedliche politische Programme, die sich in Wahlen bewähren müssen. Sie will nicht alles Wünschenswerte festlegen. Daran sollten wir auch bei heutigen Überlegungen denken, liebe Kolleginnen und Kollegen. Die Freiheit ist in den letzten Jahren unter Verdacht geraten. Zum Teil wird vor ihr gewarnt. Manche sagen, sie wollten den klassischen Freiheitsbegriff aktualisieren und eine neue, echte Freiheit definieren. Das ist gefährlich; denn Worte müssen einen klaren Sinn haben. Freiheit im Grundgesetz meint tatsächlich das, was der klassische Freiheitsbegriff meint, nämlich das Fehlen von Beschränkung und Bevormundung, die Möglichkeit, nach eigenen Vorlieben, Einsichten und Entscheidungen zu handeln. Wer auf einem klaren Freiheitsbegriff besteht, der setzt deshalb Freiheit nicht absolut. Jeder vernünftige Mensch weiß, dass Freiheit manchmal eingeschränkt werden muss. Aber die Begründungslast liegt beim Staat, der sie einschränken will, und nicht beim Bürger, der seine Freiheit gebrauchen will, liebe Kollegen. Deshalb sind diese Bestrebungen, Freiheit umzudefinieren, durchaus nicht harmlos. Eine freie Gesellschaft kommt nicht in Gefahr, wenn sie es mal mit Beschränkungen und Regulierungen übertreibt, aber wenn sie vergisst, was Freiheit wirklich ist, dann müssen wir uns Sorgen machen. Das Grundgesetz hat auch in der Staatsorganisation wichtige Entscheidungen getroffen: ein selbstbewusstes Parlament. Es liegt an uns, das zu leben: an jedem einzelnen von uns, auch an den Fraktionsführungen, der Präsidentin, dem Präsidenten des Parlaments und auch dem Verhalten der Regierung. Wir sollten tatsächlich wachsam sein, wo das Prinzip der Repräsentation infrage gestellt wird. Weder der Zufall per Los noch die Repräsentation nach soziologischen, angeborenen Merkmalen ist die Repräsentation, die unser Grundgesetz meint. Nicht ohne Grund stehen übrigens auch die Parteien an prominenter Stelle in diesem Grundgesetz. Gleich nach dem Grundrechtekatalog und gleich nach der Strukturbestimmung des Artikels 20 folgen die Parteien. Das ist kein Zufall. Es ist eine Lehre der Mütter und Väter des Grundgesetzes aus Weimar und dem Kaiserreich. Es ist schick in Deutschland, Parteien zu verachten. Richtig ist es deshalb nicht; denn sie sind notwendig, um eine moderne Massendemokratie zu organisieren. Nun sagen manche: 75 Jahre Grundgesetz – das könnte eine sehr westdeutsche Perspektive sein. – Ich finde, sie ist es nicht, wenn wir uns an diejenigen erinnern, denen, wie es in der Präambel des Grundgesetzes hieß, die Mitwirkung versagt blieb. Das waren Menschen, die in der sowjetischen Besatzungszone lebten. Wer wie Jakob Kaiser oder Hermann Brill floh, konnte danach am Grundgesetz mitwirken. Wer wie Arno Esch sich in der sowjetischen Besatzungszone und frühen DDR der SED verweigerte, sich die Flötentöne nicht beibringen ließ, bezahlte mit seinem Leben. Diese mutigen Menschen haben einen Platz in unserem kollektiven gesamtdeutschen Gedächtnis verdient. Lassen Sie uns dafür sorgen, dass wir ihnen nicht auch noch diesen Platz versagen! Und schließlich: Wir sind in einer Zeit der Selbstbehauptung liberaler Demokratien gegen Anfechtungen von vielen Seiten: durch völkischen Nationalismus, aber auch durch postkoloniale und identitätspolitische Bewegungen, die den Erfolg liberaler Gemeinwesen als Imperialismus diffamieren. In dieser neuen Systemauseinandersetzung braucht es auch ein positives Selbstbild, eine emotionale Beziehung zum eigenen Land und zum Gemeinwesen. Auch für eine Einwanderungsgesellschaft ist das nicht minder wichtig. Selbsthass ist kein Identifikationsangebot, und Selbstvergessenheit ist kein Synonym für Weltoffenheit. Deshalb: „Anmut sparet nicht noch Mühe, Leidenschaft nicht noch Verstand“, die Demokratie, die freiheitliche Ordnung zu verteidigen, die unser Grundgesetz meint. Vielen Dank.