Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor 75 Jahren hatte die Hoffnung auf Versöhnung und Frieden einen Namen: Europa. Nicht irgendeines, sondern ein Europa der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie. Der Europarat war die erste internationale Organisation, die der jungen, moralisch zertrümmerten Republik Aufnahme gewährt hat. Diese ausgestreckte Hand an unser Land dürfen wir nicht vergessen. Die Geschichte der europäischen Integration beginnt meist mit der Erzählung über die Gemeinschaft für Kohle und Stahl und über die Römischen Verträge, die zur Europäischen Union geführt haben. Und ja, das europäische Herz schlägt bei der gemeinsamen Währung, beim Binnenmarkt, bei der Idee, gemeinsam Wohlstand und Sicherheit zu erlangen. Aber der Europarat mit Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechten ist und bleibt Seele und Gewissen Europas. Mehr noch: Die europäische Integration wäre ohne dieses Fundament nicht möglich gewesen. Und dass die EU die Flagge des Europarats übernahm, zeigt dies symbolisch. Europa wird nur eine Zukunft haben, wenn wir diese Werte des Europarats insgesamt stärker adressieren und uns ihrer versichern. Lassen Sie uns kurz über Herausforderungen und Erfolge sprechen. Dass das Folterverbot und die Abschaffung der Todesstrafe in Europa selbstverständlich sind, hat was mit dem Europarat zu tun. Die Menschenrechtskonvention ist ein wuchtiges Dokument voller Leben für Menschenrechte und für Freiheit. Aber man darf nicht vergessen, dass Rechtsstaatlichkeit und Demokratie auch unter Druck geraten. Es geht um den Kampf für Demokratie und gegen autoritäre Versuchungen. Dieser Kampf muss vom Europarat geführt werden. Gewalt gegen Mädchen und Frauen erschüttert unsere Gesellschaft und verunsichert. Mit der Istanbul-Konvention steht ein Rechtsrahmen bereit, der europaweit gelebt werden muss. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist die wichtigste rechtliche Instanz für den Menschenrechtsschutz. Aber die Urteile müssen auch umgesetzt werden. Presse- und Meinungsfreiheit begründen eine offene Gesellschaft. Aber in einigen Staaten des Europarats sind Journalisten unter Druck und werden verfolgt. Meinungs- und Pressefreiheit sind unverhandelbar. Der Europarat muss auch seine Sichtbarkeit erhöhen und sich seiner Rolle bewusst werden. Es wäre gut, wenn sich Europäische Union und Europarat stärker vernetzen und verzahnen, indem die Europäische Union der Menschenrechtskonvention des Europarats beitritt. Und ja, der Europarat hat den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine nicht verhindert. Und vielleicht waren wir 2014 und danach im Umgang mit Russland zu naiv, auch im Europarat. Aber jetzt kommt dem Europarat eine entscheidende Rolle zu: bei der Erarbeitung eines Schadensregisters und auch bei der möglichen strafrechtlichen Aufarbeitung russischer Kriegsverbrechen. Auch das muss zur Aufgabe des Europarats werden. Wir brauchen ein Nebeneinander und eine bessere Vernetzung mit der Europäischen Politischen Gemeinschaft von Staats- und Regierungschefs, die sich so treffen – ohne Anbindung an ein Parlament, ohne Satzung, ohne rechtliche Grundlagen. Es gäbe ein Format für alle Staaten Europas jenseits der Europäischen Union. Dieses Format ist der Europarat. Er muss stärker gelebt werden, auch von den Staats- und Regierungschefs, um damit zu sagen: Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit haben ein Kraftzentrum. Das ist der Europarat. An dieses Band glauben wir, und daran werden wir weiter arbeiten.