Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete! Hannah Arendt hat im Jahre 1964 großen Wert auf die präzise Benennung dessen, was die Juden wirklich tief erschüttern sollte, gelegt. Ich zitiere: Das Problem war also, was unsere Freunde taten. Diese bittere Klage über das damalige Versagen, über die Passivität und Duldung des Undenkbaren adressiert an uns alle hier erstens die Mahnung, die Schuld nicht allein bei den Tätern von Rassismus und Menschenhass abzuladen, sondern sie auch bei der schweigenden Mehrheit zu suchen, die sie gewähren lässt, und zweitens den Auftrag an uns, Verantwortung zu übernehmen, Verantwortung für die Sicherheit jüdischen Lebens in Deutschland, statt sie nur zu beschwören. Antisemitismus ist keine Herausforderung für Jüdinnen und Juden, sondern eine Schande derjenigen Gesellschaft, die ihn hervorbringt. In seiner langen wie unheilvollen Geschichte zeigt der Judenhass viele, viele hässliche Gesichter, sei es im religiös begründeten Antijudaismus oder im politisch und ökonomisch motivierten Antisemitismus, die dem jüdischen Volk wahlweise Wucher, Ausbeutung oder gleich die Weltherrschaft andichten, im sekundären und antizionistischen Antisemitismus, der die Erinnerungskultur diffamiert und verächtlich macht, und letztlich im rassistischen Antisemitismus, der Juden nach dem Leben trachtet. Ja, der Antisemitismus erfand über viele Jahrhunderte viele Gründe für seinen Hass. Aber er fand nicht eine schlüssige Begründung, die ihn auf ein legitimes Fundament stellen könnte. In Wahrheit ist der Antisemitismus die älteste und hartnäckigste Verschwörungstheorie. Die Vernichtungslager des sogenannten Dritten Reiches stehen für den tiefen moralischen Abgrund, in dem antisemitischer Rassismus einst zu Völkermord führte. Die Bundesrepublik begreift sich und ihre Institutionen seither als einen radikalen Gegenentwurf zur nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Die Erinnerung an deren Verbrechen ist ihr moralischer Anspruch und der Schutz der Menschenwürde ihr vornehmster Auftrag. Artikel 1 unserer Verfassung, die dieses Jahr ihr 75-jähriges Bestehen feiert, ist das ewige Versprechen, dass alle Staatsgewalt nie mehr gleichgültig gegenüber Verbrechen an der Menschlichkeit sein darf. Aus diesem Grunde ist es so verstörend wie empörend, dass die barbarischen Terrorakte der Hamas erneut einen antisemitischen Vernichtungswillen manifestieren. Und es ist ebenfalls verstörend wie empörend, dass sowohl auf den Straßen – leider auch in unserer weltoffenen Stadt Berlin – wie auch auf den virtuellen Marktplätzen des Internets neben Bestürzung auch Freude über das Leid der Opfer Ausdruck findet. Doch egal ob offener Antisemitismus, primitiver Judenhass oder pseudointellektuell chiffrierter Antisemitismus: Jede Täter-Opfer-Umkehr und jede Rechtfertigung der Massaker durch die Hamas sind unsäglich und absolut untragbar. Und so darf das Gefühl der Verstörung und Empörung nur der erste Impuls für uns alle sein, der uns zur weiteren Handlung bewegt; denn die Abscheu allein ist nichts wert, wenn sie ohne Bekenntnis bleibt, und das Bekenntnis ist wirkungslos ohne weitere Tat. Dazu gehört im ersten Schritt, Angriffe auf unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger auch als Angriffe auf uns selbst, auf unsere Freiheit und auf die Würde unserer gemeinsamen Verfassung zu begreifen. Wir alle tragen Verantwortung, keinen rechtlichen Freiraum für Antisemitismus zu lassen. Ja, ich weiß, das ist eine komplexe Aufgabe, insbesondere – das ist vorhin hier angesprochen worden – wenn es um Meinungsfreiheit geht, um Kunst- oder Wissenschaftsfreiheit. Aber ich bin fest davon überzeugt: Politik und Gesellschaft müssen diesen schwierigen Balanceakt gehen. Wir in Berlin ertüchtigen gerade das Hochschulgesetz. Was wollen wir mit dem Hochschulgesetz? Wir wollen schwerwiegende Verstöße konsequent ahnden, zum Beispiel, wenn ein Student zusammengeschlagen wird, und das nur, weil er Jude ist. Antisemitismus greift unsere Demokratie an; da gibt es überhaupt keine Zweifel. Es ist kein Zufall, dass Judenfeindlichkeit in allen extremistischen Phänomenbereichen in ganz unterschiedlicher Intensität verbreitet ist. Wir haben heute die Mittel der wehrhaften Demokratie, aber auch die Pflicht, sie zu nutzen. Hier im Bundestag möchte ich die Frage stellen: Wie können wir verhindern, dass Verfassungsfeinde als Mitarbeiter von Volksvertretern in das Innerste der Demokratie vordringen? In Berlin haben wir uns entschieden, Vorsorge zu treffen, damit Antidemokraten, Antisemiten und sonstige Extremisten keine öffentlichen Gelder erhalten. Dazu brauchen wir eine robuste gesetzliche Regelung. Meine Damen und Herren Abgeordnete, Erinnern heißt Handeln. Das ist die Lehre aus unserer Geschichte, aber zugleich die Maxime für unsere Gegenwart. Vielen Dank.