Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Parteien! Wir debattieren inzwischen schon so oft über die Anträge der Union zum Bürokratieabbau, dass uns bald kaum Zeit übrigbleibt, um die Bürokratie auch tatsächlich abzubauen. Weniger Anträge zum Bürokratieabbau, das könnte auch eine Maßnahme zum Bürokratieabbau sein; das wäre vielleicht eine Idee für Ihren nächsten Antrag. In diesem aktuellen Antrag fordert die Union stattdessen sogar einen neuen Ausschuss für Bürokratieabbau und Gesetzesevaluierung und die bürokratische Festlegung differenzierbarer Bürokratiequoten je nach Unternehmensgröße und Branche, die nicht überschritten werden dürfen. Das Statistische Bundesamt in Zusammenarbeit mit dem Normenkontrollrat könnte die dafür notwendigen Indikatoren objektiv und neutral berechnen. Also, wenn sich etwas nach viel Bürokratie anhört, dann wohl diese und weitere ähnliche Vorschläge in Ihrem Antrag zum Bürokratieabbau, liebe Union. Aber Schluss mit der Polemik; in der Sache haben Sie ja recht. Es gibt einiges zu tun beim Bürokratieabbau in unserem Land. Es ist nicht so, dass die Ampelkoalition dies nicht erkannt hätte und nicht, wie lange angekündigt, an einem Bürokratieentlastungsgesetz arbeiten würde. Sehr wohl tut sie das, und sie macht noch mehr als das. Gerade mit Blick auf die bevorstehende Europawahl im nächsten Jahr und auch, weil wir demokratische Parteien die Wahlbeteiligung erhöhen und dafür werben wollen, dass die Bürger/-innen demokratische Parteien wählen, möchte ich vehement dem Vorurteil und dem von interessierten Kreisen verbreiteten Eindruck widersprechen, die EU sei ein reines Bürokratiemonster. Diesen fatalen Eindruck kann man beim Lesen des Antrags gewinnen, und damit tun Sie der EU gefährliches Unrecht. Die EU nur auf Bürokratie zu reduzieren, obwohl es doch bei 27 unterschiedlichen Ländern viele Eigenheiten und nationale Differenzierungen geben muss, ist falsch und manipulative Desinformation. Wie gefährlich und sinnlos das ist, mussten wir schon bei Nigel Farage, den britischen Konservativen und ihrem Brexit erleben. Reine Demagogie und Fake-Diskussionen! Es gibt nicht die EU, die irgendwo weit weg in Brüssel und Straßburg unsinnige Vorschriften produziert. Das sind Vertreterinnen und Vertreter der 27 Mitgliedstaaten, Leute, Parteipolitiker/-innen wie hier, die im EU-Parlament, der Kommission, im Rat und in anderen Gremien bestimmen, was die EU regelt, wie sie es regelt, oder es auch sein lassen. Wenn es zu viel Bürokratie oder zu wenig Soziales in Europa gibt, dann sind das ganz konkrete Politikerinnen und Politiker aus den Mitgliedstaaten, die daran etwas ändern können. Deshalb fand ich es sehr richtig und wichtig, dass die Bundesregierung zusammen mit der französischen Regierung auf ihrer Kabinettsklausur Anfang Oktober in Hamburg eine gemeinsame Initiative zum Bürokratieabbau beschlossen hat; denn nationale Maßnahmen allein reichen in einer globalisierten Welt nicht mehr aus, auch nicht beim Bürokratieabbau. Wenn man weiß, dass mehr als die Hälfte unserer Bürokratielasten mittlerweile aus der EU kommt, wo wir sie selbst beschlossen haben, müssen wir auch selbst damit aufräumen. Dass Deutschland und Frankreich als größte EU-Mitgliedstaaten gemeinsam mit konkreten Vorschlägen vorangehen, ist nur folgerichtig. Das ist keine Respektlosigkeit gegenüber den kleineren Mitgliedstaaten; zumal meine Erfahrung zeigt, dass die kleineren Länder gerade nicht die größten Probleme mit Bürokratie und bei der Digitalisierung der Verwaltung haben. Ein Beispiel dafür ist mein Heimatland Lettland, dessen fortschrittliche Verwaltung und dessen Digitalisierungsniveau ich erst dann so richtig schätzen gelernt habe, als ich schon hier in Deutschland lebte und noch einiges von hier aus in Lettland erledigen musste. Geburtsurkunde beantragen, Steuerbescheide herunterladen, die Bescheinigung über die noch in Lettland gezahlten Rentenbeiträge in Englisch erstellen lassen – das alles kann man hier in Deutschland von der Couch aus als PDF herunterladen und ausdrucken, und dann kann man einen Termin vereinbaren und die Unterlagen vor Ort einreichen. Ja, die Vorteile einer digitalen Verwaltung für Bürger/-innen liegen auf der Hand. In Lettland gibt es dafür eine Internetseite, auf der man sich mit den Daten des Onlinebankings oder mit seiner eID-Karte sicher ausweist und von der aus man alles erledigen kann: von A wie „Arbeitslosmeldung“ bis Z wie „Zertifikat über die Coronaimpfung“. Und die Esten behaupten, sie seien sogar noch besser. Wir haben also gute Beispiele in der EU, Länder, die uns zeigen, wie es geht. Von ihnen können wir lernen. Es ist gut, dass Deutschland und Frankreich, die Justiz- und die Wirtschaftsminister, nun vorangehen und die EU-Kommission auffordern, eine Bestandsaufnahme der notwendigen Änderungen vorzunehmen, die derzeit geltenden bürokratischen Vorschriften zu vereinfachen und effizienter zu gestalten und bei jeder neuen Vorschrift von Anfang an darauf zu achten, dass sie nicht mit Bürokratie verbunden ist, die nicht zweckmäßig, nicht verhältnismäßig ist. Denn wir dürfen nie individuelle Rechte und soziale Leistungen dem Bürokratieabbau opfern – weder auf nationaler noch auf europäischer Ebene –, nicht Arbeitnehmerrechte, nicht Mieterrechte, nicht Verbraucherrechte. Wir müssen aber immer prüfen, ob eine neue Verwaltungsvorschrift unbedingt sein muss. Wenn dann eine neue Vorschrift kommt, müssen wir sie immer darauf überprüfen, welche stattdessen logischerweise wegfallen müsste. Wenn möglich und dort, wo möglich, sollten wir neue Vorschriften mit einem Verfallsdatum versehen und vor dessen Ablauf prüfen, ob die Vorschrift weiter bestehen muss. Ich hoffe sehr, dass diese Initiative beider Regierungen von der EU-Kommission schnell und unbürokratisch umgesetzt wird. Es wäre wichtig, noch vor der kommenden Europawahl zu zeigen, dass wir die überbordende Bürokratie, die in der Vergangenheit auch von unseren eigenen Vertreterinnen und Vertretern peu à peu geschaffen worden ist, im Sinne der Bürger/-innen kritisch überprüfen und, wo nötig, ausdünnen. Denn auch in der EU müssen Behörden und Verwaltungen für die Menschen und die Unternehmen da sein und nicht umgekehrt. Gerade wir hier in Deutschland haben Europa so viel zu verdanken. Wuchernde Bürokratie darf uns unser Europa nicht madig machen. Im Wahlkampf 2024 sollten wir eine Zukunftsvision von einer Europäischen Union zeichnen, die von gemeinsamen Werten, Freiheit und Demokratie geprägt ist und nicht von Bürokratie. Vielen Dank.