Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Wir entscheiden hier heute über die Neuregelung der Suizidhilfe, und da unterstütze ich den Gesetzentwurf der Gruppe „Castellucci/Heveling“. Auch wenn wir heute über die Parteigrenzen hinweg argumentieren und abstimmen werden, ist unsere Entscheidung doch eine politische. Es geht nämlich nicht in erster Linie darum, welche Regelung jede und jeder von uns am besten mit dem eigenen Gewissen und der eigenen Weltanschauung vereinbaren kann, sondern eben auch um die Frage, in welchem Land, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Dabei ist es für mich zentral, wie die Politik mit Menschen umgeht, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Mir fehlt in der ganzen Debatte häufig ein realistischer Blick auf unsere Gesellschaft. Manchmal wird versucht, ein Bild von Selbstbestimmung zu zeichnen, das vollkommen losgelöst erscheint von den sozialen Bedingungen, von persönlichen und gesellschaftlichen Krisen und von dem Umfeld, in dem wir alle leben. Dieses Welt- und Menschenbild ist meiner Ansicht nach nicht besonders realistisch; es ist geprägt durch den Blick von wohlsituierten Menschen mit hoher Bildung und entsprechendem Selbstbewusstsein. Wir leben doch in einer Zeit, in der die Menschen mit einer Abfolge von Krisen zu tun haben, die sie ganz oft an den Rand ihrer Kräfte oder sogar darüber hinaus bringen. Die Coronapandemie, die mit der Klimakrise verbundenen Naturkatastrophen, der Krieg und Existenzängste durch Inflation und finanzielle Not setzen viele Menschen unter Druck, und der wirkt sich auch auf die Seele aus. Depressionen, Angststörungen und andere psychische Erkrankungen nehmen zu. Und auch unsere Hilfesysteme sind unter Druck: Mangel an Pflege- und Betreuungskräften, zu wenig Beratungsstellen, lange Wartezeiten bei Schuldenberatungen, Fachärztinnen und Fachärzten, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, fehlende Frauenhäuser und Gewaltschutzeinrichtungen sowie Jobcenter, die allzu oft den Druck noch erhöhen, anstatt die Menschen, die als Erwerbslose zu ihnen kommen, zu stärken – das ist doch die Situation. Sehr, sehr viele Menschen denken in solchen Situationen daran, sich das Leben zu nehmen. Wohl jede Person, die Menschen in Not berät, wird damit konfrontiert, dass ihre Ratsuchenden sagen: Ich kann das nicht mehr, ich will so nicht mehr leben. Auf der anderen Seite gibt es natürlich auch diejenigen, die aus wohlüberlegter, freier und dauerhafter Entscheidung ihr Leben beenden wollen und dazu Hilfe suchen. Ihnen dies unter würdevollen Bedingungen zu ermöglichen, das halte ich natürlich für richtig. Und genau das leistet der Gesetzentwurf „Castellucci“. Es steht uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, als Gesetzgeber nicht zu, die Motive Sterbewilliger zu bewerten. Aber wir haben doch die Verantwortung, sicherzustellen, dass die Selbsttötung nicht leichter gemacht wird als der Zugang zu unseren Hilfesystemen. Wir müssen dafür sorgen, dass niemand durch äußere oder innere Faktoren zum Suizid getrieben wird, ohne dass ein umfassendes und passendes Hilfeangebot gemacht wird. Und wir müssen sicherstellen, dass die Person, die sich das Leben nehmen möchte, dies wirklich aus freien Stücken tut. Wenn Sie noch unentschieden sind, nehmen Sie sich bitte diese Mail zu Herzen, die ich im April bekommen habe. Mir schrieb ein Freund: Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie diese Erfahrung meines Freundes genauso bewegt, wie sie mich bewegt hat, dann lassen Sie uns heute diese Gesetzeslücke schließen. Bitte stimmen Sie für den Gesetzentwurf der Gruppe „Castellucci“.