Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Renner, bei Ihren Anmerkungen aus dem Orkus haben Sie etwas verwechselt. Gleichschaltung betrifft nicht unsere Gesellschaft, sondern die Gesellschaft, das Regime, in dessen Spuren Sie schon seit vielen Jahren gehen. So weit zur historisch-kulturellen Bildung an dieser Stelle. Wenn Kunst es schafft, jemanden unwillkürlich zu Tränen zu rühren, dann werden ihre Macht und ihre Stärke sichtbar. Kurz vor Weihnachten saß ich in irgendeinem Hotelzimmer hier in Berlin, konnte nicht schlafen und stieß zufällig auf ein Video, nämlich das Video der Rede von Barack Obama bei der Trauerfeier für Clementa Pinckney nach dem rassistischen Massenmord von Charleston. Er spricht da, Bezug nehmend auf eine mit ihm befreundete Künstlerin und Schriftstellerin, von dem „reservoir of goodness“, dem Reservoir von Güte, kommt dann auf „grace“, auf Gnade, zu sprechen und spricht dann mehrfach von „amazing grace“, erstaunlicher Gnade. Dann hält er einen Moment inne, und dann beginnt er, zu singen. Der ganze Saal mit Tausenden von Menschen schweigt erst und beginnt dann, mit ihm zu singen, und alle stehen auf. Man muss sich das klarmachen. Das macht, glaube ich, deutlich, was Kultur und Kunst schaffen können. Kein anderes Medium, keine andere Form ist damit vergleichbar. Denn er sang dieses Lied mit Menschen, die Angehörige der Opfer dieses Mordens waren, die aber nicht antworteten mit Hass, sondern mit Verzeihen, die nicht aggressiv waren, sondern zusammenstanden. Das Lied „Amazing Grace“ – das muss man wissen – wurde ursprünglich geschrieben vom Kapitän eines Sklavenschiffs, der erst später zum Abolitionisten, einem Gegner der Sklaverei, wurde. Diese Zusammenhänge, diese Überwindung von Grenzen ist das, was Kunst und Kultur und was Medien ausmacht und worüber wir reden. Wenn wir daher, wie heute schon oft erwähnt, mehr Fortschritt wagen wollen und sollen, dann ist das bei Kunst und Kultur aus meiner, aus unserer Sicht ganz stark im Sinne von Brandts „Mehr Demokratie wagen“, und das ganz präzise – so wie der Moment, den ich gerade schilderte, ein kultureller wie zutiefst demokratischer Moment war. Das ist auch das, was sich hinter dem Staatsziel Kultur verbirgt und verbergen muss. Wenn wir uns angucken, wie wir im kulturellen Bereich Demokratie fördern, dann entdecken wir auch, wie viele kulturelle Einrichtungen heute noch geprägt sind von gar nicht demokratischen Mechanismen: wie schwarze Ballerinas diskriminiert werden, wie patriarchale und keineswegs gleichberechtigte Verhältnisse wirken und wie dann leicht gesagt wird: Das ist die Freiheit der Kunst; anders kann man künstlerisch nicht produzieren. – Was schlicht falsch ist. Das heißt: Die Demokratie muss auch Einzug halten in kulturelle Einrichtungen. Das ist unsere kultur- und medienpolitische Aufgabe zuallererst. Wenn wir tatsächlich ein solches „Plenum der Kultur“ von Bund, Ländern und Kommunen und vor allem auch unter Beteiligung möglichst starker Interessenverbände und der Zivilgesellschaft auf den Weg bringen, macht das genau dann Sinn, wenn wir Demokratie da ernst meinen und Pionierinnen und Pioniere von Demokratie im kulturellen Bereich sind. Es macht keinen Sinn, wenn es nur eine Simulation von Partizipation wird. Es macht keinen Sinn, wenn wir wieder zurückfallen in die üblichen Rituale der Vorwürfe und der Schuldzuweisungen zwischen den verschiedenen Ebenen, Bund, Ländern, Kommunen, etwa: Wer hat seine Hausaufgaben nicht gemacht? Oder doch? All diese Rituale brauchen wir nicht, weil sie keinen Sinn machen. Das Plenum macht nur dann Sinn, wenn wir es als Auftrag begreifen, uns endlich klarzumachen, dass es nicht wirklich sinnvoll ist, Künstlerinnen und Künstler darauf zu konditionieren und zu trainieren, besonders nach Projektanträgen zu funktionieren. Unsere Aufgabe als Koalition wird sein, freies künstlerisches Schaffen zu unterstützen und entsprechend auch Fördersysteme zu entwickeln. Demokratie und Kultur bedeuten aber auch, Erinnern zu begreifen und die Lücken in unserem Erinnern zu sehen. Was ist mit unserer Einwanderungsgesellschaft? Sie hat sich, was die Mehrheitsgesellschaft betrifft, nicht ausgezeichnet durch eine Fähigkeit, sondern eher durch eine Unfähigkeit, zu erinnern, zu empfinden und zu trauern. Die AfD und andere tun so, als ob Rassismus eine Erfindung von Identitätspolitik in Feuilletons wäre. Wenn Sie mal – ich will das den Familien nicht zumuten; aber Ihnen sollte man es zumuten – mit der Familie Hashemi oder der Familie Unvar gesprochen hätten, wenn Sie Herrn Kurtovic in die Augen geschaut hätten, dann wüssten Sie, was Rassismus in diesem Land anrichtet. Erst dann begreift man, was für eine unglaubliche Leistung es war, was diese Menschen auf den Weg gebracht haben: nicht nur, dass sie einen Alltag bewältigen, sondern dass sie noch eine Bildungs- und Kultureinrichtung schaffen, dass sie aufklären, dass sie nicht von Hass getrieben sind, dass sie dieses Land nicht verlassen, sondern hier sind. Unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, gerade auch kultur- und medienpolitisch, ist es, diesen Opfern, diesen Familien Unterstützung bei den Einrichtungen und bei dieser Erinnerungsarbeit zukommen zu lassen. Das ist keine Leistung. Das ist nur das Minimum. Das ist schlichte Pflichterfüllung unsererseits. Sehr geehrte Damen und Herren, wir können, wenn wir heutzutage von Kultur und Medien sprechen, nicht zu Corona schweigen. Wir können nicht schweigen zu der Frage, wie wir die kulturelle Infrastruktur und die kulturelle Daseinsvorsorge überhaupt am Leben halten: mit Finanzen, mit Unterstützung, mit der Möglichkeit, wieder Veranstaltungen zu machen. Wir müssen auch etwas anderes erwähnen – und das kommt mir viel zu kurz; ich glaube, auf dem Weg durch die Pandemie mit den ganzen Fragen von Gesundheit und ökonomischen Hilfen haben wir das ein Stück weit vergessen –: Diese Pandemie hat etwas mit uns gemacht, und es braucht Kunst und Kultur, um das zu bewältigen. Menschen und Individuen sind traumatisiert. Seit zwei Jahren hören wir doch nichts anderes als Inzidenzen und Hospitalisierungszahlen. Wir erleben um uns herum – ich zuletzt gestern –, wie Bekannte sterben, wie Menschen in Angst leben, andere wiederum in Isolation. Viele haben ihre wirtschaftlichen Existenzen verloren. Das hinterlässt doch Spuren. Wir leben in einer traumatisierten Gesellschaft, und das sieht man auch daran, wie wir teilweise über die Impfpflicht diskutieren. Es braucht auch Kunst und Kultur, um dies verarbeiten und damit leben zu können. In diesem Zusammenhang gibt es eben nicht, wie die AfD und andere denken, gut und böse, schuldig, absolut richtig und absolut wahr. Nein, es braucht Nuancen und Differenzierung. Aber es braucht gerade eben nicht diejenigen, die sich in ihrer Wagenburgmentalität, in ihrem Selbstmitleid verbarrikadieren, die sich selbst immer als Opfer betrachten, die Besserwisserei und Rechthaberei pflegen. Das ist es nämlich im Kern, was die Querdenkerbewegung kulturell ausmacht. Das alles brauchen wir nicht. Wir brauchen eine Kultur- und Medienpolitik, die Menschen ermutigt und die ermächtigt, die nicht die Selbstviktimisierung feiert, sondern die die tatsächlichen Opfer unterstützt und die begreift, dass dieser kulturelle Moment, dieses Einzigartige etwas ist, was jeder und jede Einzelne erleben muss. Deshalb grüße ich abschließend mit Rio Reiser unsere Staatsministerin, die heute nicht da sein kann, und zwar mit seinem Lied „Wann?“. Da heißt es am Schluss: The time is now. Vielen Dank.