Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Demokratinnen und Demokraten! Ich habe den Eindruck, hier reden einige heute ein bisschen aneinander vorbei. In der Union sind sich mal wieder alle einig, dass die Regelungen nicht scharf und autoritär genug sind. Aber was bleibt Ihnen auch anders übrig? Sie wollen ja schließlich inhaltlich den Anschluss an die AfD wahren. Von anderen wird diese Einigung als historisch bejubelt und als Lösung aller Probleme in Europa bezeichnet. Auch denen muss ich sagen: Das wird leider nicht eintreten. Es gehört zu einer so großen und komplexen Reform schon dazu, die Verordnung auch inhaltlich zu bewerten und sich mal zu überlegen, was das am Ende in der Praxis bedeutet; denn diese Reform ist nicht die europäische Rettung für das alles, für die sie gerade gehalten wird. Ich lese in der Presse von Erwartungen, und ich frage mich, ob wir da gerade alle den gleichen Verordnungstext haben. Denn seit Jahren gibt es ein zentrales Problem, das dringend beseitigt werden muss, damit sich überhaupt etwas ändert am Umgang Europas mit Geflüchteten. Ohne verpflichtende und funktionierende Verteilung besteht die Gefahr, dass Außengrenzstaaten wie Italien sich immer wieder aufs Neue alleingelassen fühlen. Das führt zu Pushbacks und dazu, dass sich Menschen weiter auf eine gefährliche zweite Flucht durch Europa aufmachen. Dann wird erzählt, dass Schengen in Gefahr sei. Schuld sei diese Sekundärmigration; deshalb sei diese Reform ja so dringend nötig. Aber diese Reform sorgt im Zweifel dafür, dass es eine neue Sekundärmigration gibt, weil es für Außengrenzstaaten einen hohen Anreiz gibt, bei Ankünften diese Menschen einfach weiterzuschicken. Es ist ja richtig, dass wir Freizügigkeit erhalten wollen. Was aber hilft es, wenn wir die Idee von Schengen schützen wollen, immer neue Binnengrenzkontrollen zu fordern, wie Sie von der Union es tun? Es geht Ihnen nicht um diese Reform; es geht Ihnen um den kurzen politischen, verhetzten Erfolg; das muss man, glaube ich, auch mal klar erkennen. Ich höre immer wieder, dass über Asylverfahren in Haft geredet wird und öffentlich gefordert wird, dass vom Europaparlament Kinder aus diesen Haftlagern rausverhandelt werden müssen. Ich kann die Unzufriedenheit ehrlich verstehen – ich teile sie –, aber dann gehört es auch zur Ehrlichkeit, nicht das Europaparlament um Hilfe zu bitten, sondern stattdessen selber dafür zu sorgen, dass Kinder nicht in diesen Lagern landen. Ich bin froh, dass die Herausforderungen der Kommunen erkannt wurden, dass darüber debattiert wird und dass man sich Gedanken macht. Aber bitte, tun wir doch nicht so, als würde sich mit dieser Reform nächste Woche die Lage in den Kommunen entspannen! Denn die Kommunen sind in dieser Situation wegen der Geflüchteten aus der Ukraine, die selbstverständlich unseren Schutz brauchen und ihn auch bekommen. Mit einem neuen europäischen Asylsystem ist keine Wohnung mehr gebaut und kein Kitaplatz mehr geschaffen. Nein. – Dass es diese Reform braucht, darüber sind wir uns alle einig; das sehen wir jeden Tag aufs Neue an den Außengrenzen. Das jetzige Dublin-System ist im Kern dysfunktional; es ist ungerecht, eben auch, weil es bestimmte Staaten mit der Verantwortung alleine lässt. Diese Verantwortung muss geteilt werden; nur dann kann eine Reform Verbesserungen bringen. Dieses System ist aber auch dysfunktional, weil die europäische Rechtsgrundlage von der EU-Kommission als Hüterin der Verträge eben nicht eingehalten wird. Mit einer Kommissionspräsidentin, die paralysiert zuschaut, wie Griechenland Menschen auf Rettungsinseln aussetzt und Malta illegale Pushbacks mit Fischerbooten durchführt, wird kein Unrecht verhindert. Mir fehlt der Glaube, dass von der Leyen jetzt plötzlich ihr Interesse für illegale Pushbacks entdeckt. Die Einigung, wie sie im Rat beschlossen wurde, wird in der Summe wohl keine Verbesserung bringen; das zu sagen, gehört zu einer ehrlichen Debatte dazu. Weil sie im Kern keines der Probleme löst, hätte ich mir eine andere Entscheidung gewünscht. Wenn es aber in diesem Parlament zu einem Anlass wird, laut zu johlen und zu klatschen, wenn wieder jemand mit markigen Worten Flüchtende ein Stück weiter entmenschlicht und wenn zwei Parteien am rechten Rand sich dabei einig sind, dass Familien mit Kindern in Haftlager gesperrt werden sollen, dann spricht daraus die tiefe Verachtung für die Realität, in der Menschen durch Krieg und Vertreibung in unermessliches Leid gedrängt werden. Danke.