Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher auf den Tribünen! Wir diskutieren hier im Hohen Haus gerade den Entwurf – und ich verkürze das etwas – eines Gesetzes zu dem Beschluss des Rates der Europäischen Union von 2018 zur Änderung des Akts zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments. Wir nennen das der Einfachheit halber Direktwahlakt 2018. Damit verbunden ist die Debatte über den Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zum Antrag von SPD, Grünen und FDP zur legislativen Entschließung des Europäischen Parlaments von 2022 zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die allgemeine unmittelbare Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments und über die Aufhebung des Direktwahlaktes. Diesen Teil werde ich in der Folge Artikel-23-Stellungnahme nennen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das klingt alles sehr sperrig und unverständlich, und ich kann daher gut nachvollziehen, wenn sich die Öffentlichkeit die Frage stellt: Um was geht es da eigentlich? Das versteht doch kein Mensch. – Im Kern geht es darum, das europäische Wahlrecht zu reformieren. Dabei geht es nicht – da bin ich mit der Kollegin Kopf vollständig einer Meinung – um die Wahlen im kommenden Jahr. Vielmehr reden wir über die Wahlen in den Jahren 2029 und folgende. Wir möchten als Fortschrittskoalition das Europawahlrecht in vielen Punkten verbessern. Einen ersten kleinen, aber sehr wichtigen Schritt – das darf man nicht vergessen – haben wir bereits im letzten Jahr getan mit der Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre. Der zweite Schritt besteht in dem Gesetzentwurf zum Direktwahlakt 2018 – hier besteht offensichtlich Übereinstimmung –, dessen Ratifizierung wir beschließen wollen, um die Bundesregierung zur Unterzeichnung der Ratifizierungsurkunde zu ermächtigen. Somit stünde von allen EU-Mitgliedern nur noch die Ratifikation von Spanien und Zypern aus. Stimmen auch diese Staaten zu, wird unter anderem eine Sperrklausel bei der Prozenthürde – sie soll zwischen 2 und 5 Prozent liegen – eingeführt, allerdings für die Wahlen ab 2029 unserer Meinung nach. Wir betrachten – da stimme ich der Union zu – diese Sperrklausel als notwendig, um die Arbeitsfähigkeit des Europäischen Parlaments sicherzustellen. Wir wollen aber gleichzeitig keine unangemessene Benachteiligung der kleineren Parteien und regen daher an, dass die Sperrklausel eher am unteren Ende der Skala anzusetzen ist. Damit würden wir auch den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts Genüge tun. Die Annahme und Ratifizierung des Direktwahlaktes 2018 ist, volkstümlich ausgedrückt, der Spatz in der Hand, ein wichtiger Fortschritt, den wir zusammen realistisch und zeitnah erreichen können und sollten. Deshalb ermuntern wir Spanien und Zypern, unserem Beispiel zu folgen. Inhaltlich besteht hier – ich habe es angeführt – breiter Konsens, sowohl auf der europäischen Ebene wie auch hierzulande und sogar mit den Kolleginnen und Kollegen von CDU und CSU. Es ist begrüßenswert, dass die Gemeinschaft der Demokratinnen und Demokraten in dieser grundlegenden Frage des Wahlrechts zum Europaparlament große Einigkeit zeigt. Nur am Rande möchte ich erwähnen, dass sich die Notwendigkeit einer Zweidrittelmehrheit im vorliegenden Fall meiner Meinung nach nicht zwingend aus Artikel 23 Absatz 1 Grundgesetz ergibt. Der Direktwahlakt 2018 ist höchstens als „vergleichbare Regelung“ einzustufen. Wo hier eine Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes oder deren Ermöglichung liegt, erschließt sich mir nicht. Wir bitten daher die Bundesregierung, in Zukunft intensiver zu prüfen, ob im Einzelfall jeweils die Notwendigkeit einer Ratifizierung mit Zweidrittelmehrheit besteht. Das ist übrigens auch in ihrem eigenen Interesse, da sie sonst ihre Handlungsmöglichkeiten unnötig einschränken würde. Wenn ich vorhin vom „Spatz in der Hand“ gesprochen habe, möchte ich mich jetzt der „Taube auf dem Dach“ zuwenden. Seit 2022 gibt es vom Europäischen Parlament weitergehende Vorschläge zum Wahlrecht. Liebe Frau Kollegin, diese Vorschläge wurden von einer bunten Mehrheit im Europäischen Parlament gebilligt, darunter nicht nur die S&D-Fraktion, sondern – hört, hört! – auch die EVP. Das heißt, auch die deutschen CDU- und CSU-Abgeordneten waren für das neue Wahlrecht. Wir als Koalitionsfraktionen im Bundestag unterstützen dieses Vorhaben, das ebenfalls eine Sperrklausel einführen will, das unter anderem einen unionweiten Wahlkreis mit transnationalen Listen vorsieht und das Spitzenkandidat/-innenprinzip stärkt. Wenn Sie aus der Unionsfraktion anführen, dass Sie für eine Stärkung von Frauen im Europäischen Parlament sind, dann würde ich Ihnen raten, hier im Plenum anzufangen; denn ich sehe in Ihren Reihen gerade mal fünf Frauen, die anwesend sind. Dazu gibt es unsere Artikel-23-Stellungnahme. Wir haben diese Stellungnahme vor Kurzem im Plenum ausführlich diskutiert und in der Folge in den Ausschüssen. Wir möchten mit dieser Stellungnahme der Bundesregierung eine Richtschnur für die künftigen Verhandlungen in Brüssel an die Hand geben; und diese Stellungnahme hat sie nach dem Grundgesetz auch zu berücksichtigen. Dabei sind sich die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung in der Sache ohnehin einig. Bundeskanzler Scholz hat bei seiner Rede vor dem Europäischen Parlament in Straßburg ganz ausdrücklich begrüßt, dass das Europäische Parlament an Reformen seiner eigenen inneren Strukturen und Verfasstheit arbeitet. Diese fortschrittlichen Vorschläge, die wir unterstützen, gehen dabei auch auf die Arbeit der Konferenz zur Zukunft Europas zurück; mein Blick geht zum Kollegen Schäfer, der maßgeblich mitbeteiligt war. Damit haben sie eine besonders hohe demokratische Legitimation. Sie stammen zum einen von den gewählten Mitgliedern des Europäischen Parlamentes selbst, und sie sind des Weiteren flankiert durch direkte Bürger/-innenbeteiligung über die bereits erwähnte Konferenz. Grundsätzlich gibt es mit der CDU/CSU-Fraktion im Hause offensichtlich keine unüberwindlichen Meinungsverschiedenheiten. Wir wären bereit gewesen, geringfügige Änderungen vorzunehmen, um Ihre Unterstützung zu gewinnen. Allerdings scheint hier die Debatte um das deutsche Wahlrecht immer noch etwas nachzuwirken. Es stellt sich mir die Frage, ob die Union tatsächlich in europäischen und auch sicherheitspolitischen Fragen – ich denke zum Beispiel an die Mali-Entscheidung morgen – den Grundkonsens der Mitte dieses Hauses aufgeben will und in Zukunft eher Fundamentalopposition betreibt. Aber vielleicht gibt sich das ja auch wieder. Nach den Landtagswahlen in Hessen und Bayern wird der Blick vielleicht wieder klarer auf die Sachfragen dieser Politik gerichtet. Am Ende möchte ich festhalten: Wir lösen ein wichtiges Versprechen aus dem Koalitionsvertrag ein. Dort heißt es: Wenn bis zum Sommer 2022 kein neuer Direktwahlakt vorliegt, wird Deutschland den Direktwahlakt aus dem Jahr 2018 ratifizieren. Langfristiges Ziel bleibt, die neuen Vorschläge des Europäischen Parlaments umzusetzen. Das unterstützen wir mit unserer Artikel-23-Stellungnahme. Am Ende haben wir sowohl den Spatz in der Hand, den guten, realistisch zeitnah umsetzbaren Fortschritt, und gleichzeitig unterstützen wir die große Reform des Wahlrechts, unsere Taube auf dem Dach. Ich stelle fest: Die Fortschrittskoalition liefert. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.