Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im September 1939, kurz nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, mussten im Konzentrationslager Sachsenhausen alle Insassen, 8 500 Männer, antreten, um der Hinrichtung, der Ermordung von August Dickmann zuzuschauen. August Dickmann war 29 Jahre jung. Sein Verbrechen? Er war Zeuge Jehovas und verweigerte aus seinem Glauben heraus den Kriegsdienst. Es sollte ein Exempel statuiert werden. Die Häftlinge durften abtreten – bis auf 367. Ihnen warf man vor, Zeugen Jehovas zu sein, und sie sollten sich entscheiden: ihrem Glauben abschwören oder Hinrichtung durch Erschießen. Die Nazibarbaren konnten es nicht fassen: Alle 367 Männer blieben ihrem Glauben treu. – Viele von ihnen starben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt Debatten in diesem Hause, die führen wir spät. Manche führen wir zu spät. Die heutige gehört dazu, und dafür bitten wir um Entschuldigung. Zu Recht sprechen Historiker von den Zeugen Jehovas als den „vergessenen Opfern des Nationalsozialismus“. Mit seiner Dissertation „Widerstand und Martyrium der Zeugen Jehovas im Dritten Reich“ arbeitete Dr. Detlef Garbe, langjähriger Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, bereits 1993 heraus, dass gerade sie zu den allerersten verfolgten Gruppen im Nationalsozialismus gehörten. Die parlamentarische Auseinandersetzung mit ihrem Leid und die erinnerungspolitische Anerkennung ihrer Verfolgung im Dritten Reich sind daher überfällig und notwendig. Heute füllen wir diese Lücke. Bereits 1929 warnten die Mitglieder der Zeugen Jehovas klar vor den Gefahren der nationalsozialistischen Ideologie und ihrem menschenverachtenden Weltbild. Nur wenige Monate nach der Machtübernahme der Nazis waren sie als erste Glaubensgemeinschaft verboten und waren härtesten Repressionen des Regimes ausgesetzt. Wegen ihres fundamentalen Bibelverständnisses verweigerten sie den Dienst in der Wehrmacht genauso wie den Eid auf Hitler, organisierten sie die Rettung jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger und leisteten sie aktiv Widerstand aus dem Untergrund. Sie weigerten sich, sich dem Regime zu unterwerfen, selbst wenn es den sicheren Tod für sie bedeutete. Zur historischen Einordnung möchte ich Dr. Garbe zitieren: Mit unserem gemeinsamen Antrag zur Schaffung eines Mahnmals für die im Nationalsozialismus verfolgten und ermordeten Zeugen Jehovas nehmen wir unsere Verantwortung wahr, einer würdigen Erinnerung aller Opfergruppen des Nationalsozialismus gerecht zu werden. Wir wollen dem fortgesetzten Vergessen aktiv entgegentreten. Manche Debatten führen wir hier im Hause zu spät. Ich bin den Kolleginnen und Kollegen der Ampel und der Union für den gemeinsamen Antrag und ganz besonders den Kolleginnen und Kollegen der Linken dankbar, die den Antrag mit begleitet haben, ihn unterstützen. Und ich danke Dr. Tim Müller und den Vertretern der Arnold-Liebster-Stiftung – herzlich willkommen heute Abend im Deutschen Bundestag! – für die Anregungen und die Gespräche, die hoffentlich bald zur Schaffung eines zentralen Ortes des Gedenkens am Goldfischteich im Berliner Tiergarten führen – ein stiller Ort und doch ein Ort der Verfolgung und der Barbarei, der authentischer nicht sein könnte. Es wird ein Ort des Erinnerns und des Gedenkens sein, und dafür, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es niemals zu spät. Vielen Dank.