Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben die Worte des großen Liberalen Heinrich von Gagern bereits gehört; aber ich bin davon überzeugt, dass es auch einem Liberalen ansteht, ihn heute zu zitieren, den ersten Präsidenten der Nationalversammlung: Mit diesen wenigen Worten umriss Heinrich von Gagern, geboren in meiner Heimatstadt Bayreuth, den Auftrag an die Nationalversammlung, die ihn soeben zu ihrem ersten Präsidenten gewählt hatte. Frau Präsidentin, die Amtszeit damals betrug einen Monat; er wurde sechsmal wiedergewählt. Deutsche Einheit, Herrschaft des Volkes, Demokratie und die Einbindung aller Gliederungen, Föderalismus – Heinrich von Gagern richtete seine Worte nicht nur an die Nationalversammlung; sie begleiten unsere Geschichte bis heute. Dass wir heute im Deutschen Bundestag der Geburtsstunde der Demokratie in Deutschland gedenken, sie würdigen, ist eine notwendige Selbstverständlichkeit. Der 175. Jahrestag des Zusammentretens der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche ist dabei in vielerlei Hinsicht ein besonderes Jubiläum. Die Paulskirche steht für das Ringen um Mitbestimmung, für das Ringen um Demokratie, für das Ringen um Freiheit, aber auch für den schweren Weg, den unsere parlamentarische Demokratie in fast zwei Jahrhunderten noch beschreiten musste – ein Weg, der uns immer wieder vor Augen führt, dass Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist, nie selbstverständlich war und auch nie selbstverständlich sein wird. Die zurückliegenden 175 Jahre zeigen, dass Demokratie ein permanenter Kampf gegen innere und äußere Widerstände ist, dass es den Einsatz mutiger Frauen und Männer braucht und dass Rückschläge nicht ausbleiben. Die zurückliegenden 175 Jahre zeigen aber auch, dass Demokratie und Freiheit sich am Ende immer behaupten. Die Bedeutung der Paulskirche kann nicht genug betont werden. Nach den Jahrhunderten der Herrschaft von Fürsten, Königen und Kaisern war es das erste Mal, dass das Volk die Möglichkeit erhielt, selbst an der Gestaltung des Landes mitzuwirken, geprägt von einer unruhigen Zeit wirtschaftlicher Krisen und großer politischer Unzufriedenheit. Die Abgeordneten, die in der Paulskirche zusammenkamen, repräsentierten die Vielfalt Deutschlands, zumindest die männliche. Sie waren Vertreter verschiedener Regionen und der unterschiedlichsten politischen Absichten und religiösen Überzeugungen. Doch sie waren geeint – geeint im Glauben an eine bessere Zukunft für unser Land. Sie erkannten, dass nur eine demokratische Verfassung die Grundlage für eine freie und damit gerechte Gesellschaft sein konnte. Gemeinsam erarbeitete und verabschiedete man am 28. März 1849 mit der Paulskirchenverfassung die erste gesamtdeutsche und demokratische Verfassung. Wirksam wurde sie nie, blieb aber doch staatstheoretisches Fundament für die späteren deutschen Verfassungen. Sie schuf im Kontext ihrer Zeit erstmals ein Bewusstsein für die Bedeutung von Bürger- und Freiheitsrechten. Das Zusammentreten der Nationalversammlung war ein Sieg der Demokratie. Und doch folgte ein Wiedererstarken monarchisch-restaurativer Kräfte in den deutschen Einzelstaaten. Es ist vielleicht eine Ironie der Geschichte, dass die deutsche Nationalversammlung mit 809 Abgeordneten den Deutschen Bundestag mit seinen derzeit 736 Mitgliedern beinahe klein aussehen lässt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn das Bemühen der liberalen und demokratischen Einheits- und Freiheitsbewegung von 1848/49 damals scheiterte, so bleibt 175 Jahre später ihr großes politisches Vermächtnis: Ihre Überzeugungen, ihr tiefer Glaube an die Grundrechte, an die Versammlungs- und Pressefreiheit fanden ihren Weg über die Weimarer Verfassung in unser Grundgesetz. Diese zu verteidigen, ist unser Auftrag. Die Frankfurter Paulskirche ist der Kristallisationskern unserer deutschen Demokratiegeschichte. Zu Recht würdigen wir heute diese historische Institution. Sie ist auch Symbol für die Stärke und Widerstandsfähigkeit der deutschen Demokratie. Sie erinnert und mahnt uns daran, dass die Demokratie ein kostbares Gut ist, dass sie vor denen geschützt werden muss, die sie mit Füßen treten, dass sie verteidigt und weiterentwickelt werden muss. Sie erinnert uns daran, dass die Stimme eines jeden einzelnen Bürgers zählt und wir alle dazu beitragen können und auch müssen, eine bessere Zukunft für unser Land zu schaffen. Sie erinnert uns, dass unsere Freiheiten und Rechte hart erkämpft wurden und dass es unser Auftrag ist, diesen Kampf fortzuführen: für unser Grundgesetz, für unsere Freiheit, für unsere Demokratie. Vielen Dank.