- Bundestagsanalysen
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Erstes freue ich mich sehr, dass Herr Schäuble, der mit großer staatsbürgerlicher Leidenschaft jahrelang für ebendieses Konzept des Bürgerrates – übrigens zusammen mit Mehr Demokratie – geworben hat,
Aber nicht mit dem Thema! –Zuruf des Abg. Steffen Bilger [CDU/CSU])
unserer heutigen Debatte beiwohnt. Herzlichen Dank für Ihre Arbeit in den letzten Jahren!
Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Gitta Connemann [CDU/CSU])
Bürgerräte sind auch ein gutes Instrument, Verschwörungsmythen zu bekämpfen. Einen Verschwörungsmythos hat uns Herr Bilger vorhin präsentiert, nämlich die verwegene These, wir hätten in einem Akt der Verschwörung das Modell „Bürgerrat“ erfunden, um von Cem Özdemirs Ernährungspolitik abzulenken.
Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)
Auf diese Idee muss man wirklich erst mal kommen.
Aber die Geschichte wiederholt sich. Denn es war ja nicht nur so, dass Herr Schäuble und auch andere von Ihnen – ich war dabei – dieses Konzept vor Jahren und jahrelang überzeugend befürwortet haben, bis die Ad-hoc-Amnesie bei Ihnen ausgebrochen ist. Es war auch so, dass vor einigen Jahren, Keynote von Wolfgang Schäuble, Thorsten Frei und ich hier in Berlin auf einem Podium von Mehr Demokratie zum vorletzten Bürgerrat von Mehr Demokratie saßen und beide erklärten: Wir setzen gemäß Koalitionsvertrag der GroKo eine Expertenkommission Demokratie ein. – Wenige Monate später war dieses Bekenntnis vergessen. Die Geschichte wiederholt sich. Sie scheinen an Demokratieamnesie zu leiden. Ich verstehe es jedenfalls nicht.
Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Mit Amnesie kennen Sie sich aus!)
Abgesehen von diesem Akt plötzlichen Vergessens möchte ich noch in Bezug auf den Bürgerrat auf ein doppeltes Skandalon hinweisen, ein Skandalon in der Demokratie, dem wir nicht nur mit dem Bürgerrat begegnen können. Bürgerräte sollen ja kein Instrument sein, um nur die üblichen Verdächtigen noch besser zu beteiligen. Vielmehr sollen sie die Perspektiven derjenigen zu Gehör bringen, die sich verabschiedet haben von der Demokratie oder deren Stimmen kein Gehör finden.
Ich war Anfang der Woche auf einem Podium mit einer Bürgermeisterin in Sachsen, die meinte, dass Bürgergeld ein Fehlanreiz wäre für Menschen insbesondere ausländischer Staatsangehörigkeit, nicht zu arbeiten. Ich wünsche mir, dass in Bürgerräten auch die Perspektiven derjenigen, die die Realität von Bürgergeld und Armut kennen, zum Ausdruck kommen und Sie sich solche Stigmatisierungen anhören müssen.
In Bezug auf Ernährung hieße das zum Beispiel auch, dass es sinnvoll wäre, die Perspektiven von jungen Familienangehörigen einzubringen, die Perspektiven von Menschen, die keine reale Wahlfreiheit aufgrund von Armut, von Sozialisierung und von Bildungsbiografien haben, oder auch die Perspektiven von Menschen in stationären Einrichtungen, die über ihre Ernährung nicht selbst entscheiden können und über die entschieden wird.
Das zweite Skandalon, das ich erwähnen möchte: Wir kranken doch als Gesellschaft, wenn wir ehrlich sind, gar nicht so sehr an einer Polarisierung, sondern eher an einer Insularisierung. Die eigene Meinung ist absolut, die reine Wahrheit. Diskussion, guter Streit sind nicht notwendig. Man mutet sich nicht mehr die Meinung des anderen zu. Das ist doch gerade eine Qualität dieses Bürgerrates:
Zuruf des Abg. Enrico Komning [AfD])
dass wir lernen, einander auszuhalten, gut zu streiten, zu diskutieren, und begreifen, was Kompromisse sind – nämlich weit mehr als der kleinste gemeinsame Nenner –:
Zurufe der Abg. Steffen Bilger [CDU/CSU] und Christina Stumpp [CDU/CSU])
ausverhandelte Ergebnisse aus unterschiedlichen Perspektiven.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Abgeordneter.
Denn wir wissen, dass wir uns selbst nicht genug sind. Das ist die Botschaft des Bürgerrates: Gesellschaft beginnt da, wo wir uns selbst nicht genug sind.
Herzlichen Dank.
Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)